Marxismus und Anthroposophie - Institut für soziale Gegenwartsfragen
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tik nach sich, Gedankenbilder treten traumhaft, wie vage Eingebungen auf: das Alltags“denken“<br />
ist in hohem Maße von assoziativen, reflexhaften <strong>und</strong> gewohnheitsmäßigen<br />
Momenten geprägt. Häufig genug ist es bloße Rationalisierung von Antrieben, über deren<br />
wahre Natur sich zu täuschen dem Subjekt schmerzhafte Gefühlsregungen, etwa Gewissensbisse,<br />
erspart. Das im Rahmen von Bezugsgruppen (Familie, Kirche, Partei, Kollegenkreis<br />
usw.) gesellschaftlich Übliche, nicht selbständige Stellungnahmen <strong>und</strong> Überlegungen,<br />
bestimmt das Denken vieler Menschen, mehr, als sie selbst oft wissen. Steiner<br />
ist weit entfernt davon, dies zu leugnen. Er konstatiert, daß das Gehirn beim heutigen<br />
Durchschnittsmenschen weitgehend automatisch denkt, ein nur in Worten verlaufender<br />
scheinbarer Gedankenablauf stattfindet, <strong>und</strong> er sieht darin eine große Gefahr. 4 Steiner ist<br />
sich auch vollkommen bewußt über die hochgradige Leib-geb<strong>und</strong>enheit des gewöhnlichen<br />
Seelenlebens, ja er betrachtet es in gewissem Maße auch als notwendig, daß das<br />
Geistig-Seelische im irdischen Lebenslauf in den leiblichen Wirkungen lebt, an sie hingegeben<br />
ist, sich in ihnen darstellt. Er spricht nicht Pauschalurteile über Hirn <strong>und</strong> Bewußtsein<br />
aus, sondern versucht die Sphäre genauer zu bestimmen, wo von einem einsichtsvoll-freien<br />
Denken die Rede sein kann: sie beginnt überhaupt erst da, wo das Subjekt<br />
sich nicht einfach treiben läßt, sondern die volle Verantwortung <strong>für</strong> sein Denken übernimmt,<br />
es von allen <strong>und</strong>urchschauten Momenten zu reinigen versucht, als da sind Wünsche,<br />
Neigungen, Emotionen, Affekte, Illusionen aller Art. Ein solches Denken, das man<br />
sich gewöhnlich nicht ohne Übung erwirbt, läßt den anflutenden Assoziationen nicht blind<br />
ihren Lauf, sondern bringt sie unter Kontrolle, unterwirft sie dem Willen zur Erkenntnis,<br />
weist die nicht zur Sache gehörenden ab <strong>und</strong> teilt den sachdienlichen ihren Ort im logischen<br />
Zusammenhang zu. Ein solches Denken gewinnt auch zu <strong>soziale</strong>n Prägungen ein<br />
freies Verhältnis, es bejaht gegebene Werte bewußt oder wertet sie bewußt um. Die Beobachtung<br />
dieses Denkens, das sich „sachgemäß, durch innere Kraft“ vollzieht, ist es, die<br />
Steiner zu der These veranlaßt, daß die leiblich-seelische Organisation des Menschen,<br />
„an dem Wesen des Denkens nichts bewirken kann.“ 5<br />
Natürlich könnte ein Skeptiker immer noch fragen, ob man sich in der Bewußtmachung<br />
des Denkens nicht notwendig täuschen müsse, weil man in Wirklichkeit nur die<br />
Ergebnisse einer dem Denken zugr<strong>und</strong>eliegenden unbewußten <strong>und</strong> eben deshalb unbeobachteten<br />
Tätigkeit erblicke, „wie wenn man bei rasch aufeinanderfolgender Beleuchtung<br />
durch elektrische Funken eine Bewegung zu sehen glaubt.“ Ein solcher Einwand, so<br />
Steiner, berücksichtigt aber nicht, „daß es das ,Ich‘ selbst ist, das im Denken drinnen<br />
stehend seine Tätigkeit beobachtet. Es müßte das Ich außerhalb des Denkens stehen,<br />
wenn es so getäuscht werden könnte, wie bei rasch aufeinanderfolgender Beleuchtung<br />
durch elektrische Funken. Man könnte vielmehr sagen: wer einen solchen Vergleich<br />
macht, der täuscht sich gewaltsam wie jemand, der von einem in Bewegung begriffenen<br />
Licht durchaus sagen wollte: es wird an jedem Ort, an dem es erscheint, von unbekannter<br />
Hand neu angezündet.“ 6<br />
Wie hat man sich nun - Steiner folgend - das Verhältnis des Denkens zum Hirn als<br />
seinem Werkzeug des näheren vorzustellen? Die Antwort verblüfft zunächst: Denken <strong>und</strong><br />
alles Bewußtsein ist nicht „Produkt“ der organischen Vitalprozesse, es entsteht vielmehr<br />
gerade durch deren Zurückdrängung. Hirn- <strong>und</strong> Nervenmaterie verfügt im Vergleich zu<br />
anderer Leibesmaterie nur über geringe Vitalität: Nervenzellen regenerieren sich nicht,<br />
abgestorbene Zellen werden nicht durch neue ersetzt. Gerade dadurch, daß es an den<br />
Vitalprozessen des übrigen Organismus gewissermaßen parasitiert, wird das Nervensystem<br />
zum Träger des bewußten Lebens. Die „organischen Prozesse bringen nicht auf<br />
einer höchsten, kompliziertesten Stufe auch noch die Gedanken hervor. Im Gegenteil!<br />
Ihnen wird eine Grenze ihres Wirkens gesetzt, an der sie überw<strong>und</strong>en werden. So erst<br />
können die Wachstumskräfte durch einen organischen Nullpunkt hindurchgeführt <strong>und</strong> zu<br />
Gedankenkräften metamorphosiert <strong>und</strong> dem Ich zur Verfügung gestellt werden. Erst wo<br />
das organische Leben zurücktritt, hat das seelisch-geistige Leben Platz, das sich nunmehr<br />
an der Sinnes-Nerven-Organisation spiegelt <strong>und</strong> seiner selbst inne wird. [...] Der in<br />
den menschlichen Organismus hineingenommene Todesprozeß entpuppt sich als der<br />
Kunstgriff der Natur, nicht nur mehr, sondern höheres Leben zu haben.“ 7<br />
Schon die simple Beobachtung, daß man beim Denken eine innere Energie aufwenden<br />
muß, um sich gegen alle Ermüdungstendenzen bei der Sache zu halten, deutet darauf<br />
hin, daß wir nicht mit, sondern gewissermaßen gegen unsere leibliche Organisation<br />
63<br />
4<br />
Vgl. GA 350, Vortr. 28. 6. 1923.<br />
5<br />
GA 13, S. 24S; GA 4, S. 147f. Vgl. GA 167, S. 324.<br />
6<br />
GA 4,S. 55f.<br />
7<br />
Bühler 1980, S. 25f.