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Marxismus und Anthroposophie - Institut für soziale Gegenwartsfragen

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erfassen sucht, spürt Goethe in seinen naturwissenschaftlichen Arbeiten den Gesetzen<br />

der Pflanzenmetamorphose nach <strong>und</strong> gelangt so zur Idee des Organismus.<br />

Goethe sucht nach einer Naturanschauung, die dem Wesen des Lebendigen gerecht<br />

wird <strong>und</strong> seine Gesetze nicht auf die des Unlebendigen reduziert. Dem bloß zergliedernden<br />

Verfahren, wie es der Leichenzerschneider, der Anatom, praktizieren muß, setzt er<br />

ein ganzheitliches entgegen, das die Ergebnisse von Anatomie wohl zu integrieren weiß,<br />

aber nicht bei ihnen stehenbleibt. Der äußeren sinnlichen Anschauung ist an einem Organismus<br />

nur das Nebeneinander der Glieder offenbar, wie es auch noch am Leichnam<br />

vorhanden ist. Aber dieser ist schon kein Organismus mehr: „Es ist jenes Prinzip verschw<strong>und</strong>en,<br />

welches alle Einzelheiten durchdringt. Jener Betrachtung, welche das Leben<br />

zerstört, um das Leben zu erkennen, setzt Goethe frühzeitig die Möglichkeit <strong>und</strong> das<br />

Bedürfnis einer höheren entgegen.“ 18 Goethe kommt zu einem großartigen gedanklichen<br />

Aufbau der lebendigen Totalität der Bildegesetze, die die Entwicklung der Pflanze bestimmen:<br />

Macht man diesen gedanklichen Aufbau in sich lebendig, dann bemerkt man, daß<br />

er die „in die Idee übersetzte Natur der Pflanze selbst ist, die in unserem Geiste ebenso<br />

lebt wie in dem Objekt; man bemerkt auch, daß man sich einen Organismus bis in die<br />

kleinsten Teile hinein belebt, wenn man ihn nicht als toten abgeschlossenen Gegenstand,<br />

sondern als sich Entwickelndes, Werdendes, als die stete Unruhe in sich selbst vorstellt.“<br />

19<br />

In der Welt des Organischen ist das Allgemein-Notwendige im Meer der Einzelerscheinungen,<br />

ihr immanentes Ordnungsprinzip, nicht wie in der anorganischen Natur die<br />

Regel, nach der ein Vorgang ursächlich aus einem anderen folgt. Die Idee drückt hier<br />

nicht nur aus, was sinnenfällig geschieht, sondern bringt das im Sinnenfälligen wirksame,<br />

aber <strong>für</strong> die Sinne nicht erscheinende Prinzip des Ganzen zum Vorschein: das Gesetz ist<br />

hier Entwicklungsgesetz, die Strukturierung eines zeitlichen Geschehens, in dem keine<br />

Phase übersprungen werden kann. „Es ist in der Natur des Ganzen bedingt, daß ein bestimmter<br />

Zustand als der erste, ein anderer als der letzte gesetzt wird; <strong>und</strong> auch die Aufeinanderfolge<br />

des mittleren ist in der Idee des Ganzen bestimmt, das Vorher ist von dem<br />

Nachher <strong>und</strong> umgekehrt abhängig; kurz im lebendigen Organismus ist Entwicklung des<br />

einen aus dem anderen [...]“ 20<br />

Goethe findet, daß die Pflanze ein Wesen ist, „welches in aufeinanderfolgenden Zuständen<br />

gewisse Organe entwickelt, welche alle, sowohl untereinander wie jedes einzelne<br />

mit dem Ganzen nach ein <strong>und</strong> derselben Idee gebaut sind [...]“ 21 Der „lebendige Begriff“,<br />

der die räumlichen Gestaltungsformen, welche die Pflanze in ihrem Wachstum annimmt,<br />

„rückwärts <strong>und</strong> vorwärts verbindet“, ist der des „wechselnden Ausdehnens <strong>und</strong><br />

Zusammenziehens“, also der Begriff einer sich in Gegensätzen, in der Polarität von Diastole<br />

<strong>und</strong> Systole vollziehenden Entwicklung. Die Pflanze nimmt dabei eine Reihe von<br />

einander wenn man so will negierenden, sich widersprechenden <strong>und</strong> „ausschließenden“<br />

Gestalten an <strong>und</strong> bleibt dabei doch mit sich identisch, eine Identität, die ganz im Sinne<br />

Hegels den Unterschied, Gegensatz <strong>und</strong> Widerspruch an sich hat. Man wird erinnert an<br />

eine Stelle aus der Vorrede der Hegelschen „Phänomenologie des Geistes“, wo es heißt:<br />

„Die Knospe verschwindet in dem Hervorbrechen der Blüte, <strong>und</strong> man könnte sagen, daß<br />

diese von jener widerlegt wird; ebenso wird durch die Frucht die Blüte <strong>für</strong> ein falsches<br />

Dasein der Pflanze erklärt, <strong>und</strong> als ihre Wahrheit tritt jene an die Stelle von dieser. Diese<br />

Formen unterscheiden sich nicht nur, sondern verdrängen sich auch als unverträglich<br />

miteinander. Aber ihre flüssige Natur macht sie zugleich zu Momenten der organischen<br />

Einheit, worin sie sieh nicht widerstreiten, sondern eins so notwendig als das andere ist;<br />

<strong>und</strong> diese gleiche Notwendigkeit macht erst das Leben des Ganzen aus.“ 22<br />

Im Samen sind die pflanzenbildenden Kräfte auf einen Punkt konzentriert, dann streben<br />

sie im Stengel in die Höhe <strong>und</strong> breiten sich in der Blattbildung an verschiedenen<br />

Achsenpunkten aus, um sich an einem Punkt des Stengels im Kelch wieder zusammenzuziehen<br />

<strong>und</strong> in der Blumenkrone erneut auszudehnen. Sodann kontrahieren sie ein<br />

weiteres Mal in Staubgefäßen <strong>und</strong> Stempel, um sich in der Frucht noch einmal zu dehnen,<br />

bis sich schließlich die „ganze Kraft des Pflanzenlebens (das entelechetische Prinzip)<br />

wieder im höchst zusammengezogenen Zustand im Samen“ (bzw. in modifizierter<br />

Weise in der Knospe) verbirgt. 23 „Die ganze Pflanze stellt nur eine Entfaltung, eine Reali-<br />

77<br />

18<br />

GA 1, S. 8.<br />

19<br />

ibd. 11.<br />

20<br />

ibd. 24, vgl. S. 51.<br />

21<br />

ibd. 25, ebenso das folgende Zitat.<br />

22<br />

Hegel, Phänomenologie, Vorrede.<br />

23<br />

ibd. 26.

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