Marxismus und Anthroposophie - Institut für soziale Gegenwartsfragen
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Karl der Große empfängt die Kaiserkrone aus den Händen des römischen Papstes,<br />
des Pontifex Maximus (das ist der Titel, den sich Augustus als oberster Priester eines<br />
veräußerlichten Staatskultus zulegte). Der Geist des Imperium Romanum wirkt so über<br />
dessen Untergang hinaus fort, <strong>und</strong> das gesamte mittelalterliche Christentum, ja man kann<br />
hinzufügen, die gesamte Entwicklung bis zum päpstlichen Unfehlbarkeitsdogma des 19.<br />
Jahrh<strong>und</strong>erts <strong>und</strong> darüber hinaus, ist nur dadurch zu verstehen, daß „in das ursprüngliche<br />
Christentum die römische Staatsidee hineingeflossen ist“. Das Mönchtum war immer<br />
ein Aufbäumen gegen diese „politische Gestalt des Christentums“, ist aber selbst eine<br />
Abweichung von dessen ursprünglicher Gestalt, „weil diese Art von Vereinsamung, von<br />
Zurückziehen von der Welt, ihm ganz fremd war [...]“ 36<br />
Nur aus dieser Entwicklung heraus sind die Ketzerverfolgungen zu verstehen, die Inquisition,<br />
die Unfreiheit <strong>und</strong> der Gewissenszwang, über den so viele freie Geister in den<br />
Kirchen geklagt haben. Und nur aus der Einschätzung dieser Entwicklung ist Steiners<br />
Prognose zu verstehen, daß die Blütezeit des Christentums, die Zeit der breitesten Entfaltung<br />
seines innersten Impulses noch vor uns liegt. Es ist aber auch die skizzierte Entwicklung,<br />
die den Widerspruch zwischen Wissen <strong>und</strong> Glauben zu einem so unüberbrückbaren<br />
macht, wie er uns in der christlichen Tradition bis zum Luthertum hin entgegentritt.<br />
Wenn heute in den Kirchen Unzufriedenheit mit dem Dogmenglauben auftritt, das Streben<br />
nach einem verstärkten, über das Karitative hinausgehenden <strong>soziale</strong>n Engagement<br />
sich regt, das sich teilweise als Politisierung darstellt, dann wirken hier Impulse einer<br />
Erneuerung, die nicht zu unterschätzen sind, - auch wenn sie manchmal - z.B. in Tendenzen<br />
zur gänzlichen Auflösung von Religion in Politik -fehlgeleitet erscheinen.<br />
Der Widerspruch zwischen Wissen <strong>und</strong> Glauben ist es, der heute vom <strong>Marxismus</strong> als<br />
F<strong>und</strong>ament der These von der Unversöhnlichkeit von Wissenschaft <strong>und</strong> Religion herangezogen<br />
wird. Dabei bedient sich der <strong>Marxismus</strong> in seinem Bestreben, dem falschen,<br />
religiösen, ein richtiges, wissenschaftliches Bewußtsein entgegenzustellen, oft - trotz<br />
verfassungsmäßig eingeräumter Religionsfreiheit in den sozialistischen Staaten -jener<br />
machtpolitischen Mechanismen <strong>und</strong> Verwaltungsmethoden, die über die römische Staatsidee<br />
in das offizielle Christentum eingewandert waren. Es kann wohl keine Rede davon<br />
sein, daß im realen Sozialismus bereits jene „freieste Diskussion“ herrscht, die <strong>für</strong> das<br />
Urchristentum typisch war. Selbst innerhalb der herrschenden Lehre werden Meinungsverschiedenheiten<br />
über diese oder jene Linie immer noch oft durch Machtworte der marxistisch-leninistischen<br />
Partei entschieden, auch wenn nicht verkannt werden soll, daß<br />
sich die Situation gegenüber den 30er Jahren, in denen die Gesinnung der Inquisition in<br />
den GPU-Kellern auflebte, sehr gebessert hat.<br />
Den sozialistischen Ländern wurde immer wieder vorgehalten, in ihnen habe der Materialismus<br />
selbst religiösen Charakter angenommen, fungiere als „innerweltliche Heilslehre“<br />
mit einem Kultus, der von der Jugendweihe bis zu den Beifallsritualen der Parteitage<br />
<strong>und</strong> den Fahnenwäldern der verordneten Aufmärsche reiche. Die Empfindlichkeit, mit<br />
der man auf den Vorwurf zu reagieren pflegt, braucht kein Zeichen von dessen Schwäche<br />
sein. Die Berufung darauf, daß der Unterbau der Parteiideologie vor dem wissenschaftlichen<br />
Denken Bestand habe, ist, solange er nicht auch in wissenschaftlichen Diskursen<br />
kritisch hinterfragt werden darf, selber noch nicht dem Status einer Glaubensfrage entwachsen.<br />
Doch sei dem, wie es wolle, das Bestreben, die weltanschaulich relevanten<br />
Fragen dem Denken zugänglich zu machen, sie durch Erkenntnis zu entscheiden, ist ein<br />
positives Moment am <strong>Marxismus</strong>, <strong>und</strong> vielleicht ist es in der Lage, über das Gegebene<br />
hinauszutragen <strong>und</strong> die verfassungsmäßig garantierte Religions- durch ebensolche Philosophiefreiheit<br />
zu ergänzen. Darin, <strong>und</strong> nicht in der Übernahme von allerlei fragwürdigen<br />
„Segnungen“ des westlichen Systems, läge ein entscheidender Fortschritt in der Entwicklung<br />
des real existierenden Sozialismus.<br />
In der kirchlichen Entwicklung hat es Versuche gegeben, den Gegensatz von Wissen<br />
<strong>und</strong> Glauben, wenn nicht aufzuheben, so doch in seiner Schärfe zu mildern. Es ist dies<br />
ein Gegensatz, der geschichtlich erst entstehen kann mit dem Beginn einer materiellen<br />
Kultur: In Griechenland steht die Wiege einer intellektuellen Entwicklung, die zum Ergreifen<br />
der Sinneswelt <strong>und</strong> ihrer technischen Beherrschung, zugleich aber zum partiellen<br />
Vergessen der geistigen Daseinsdimension führt. Demgegenüber bleibt in Asien das<br />
Interesse an der äußeren Welt geringer, <strong>und</strong> es bildet sich eine mehr spirituelle Kultur.<br />
Wenn Steiner die Wiedervereinigung von Wissenschaft, Kunst <strong>und</strong> Religion anstrebt,<br />
dann durch einen modernen Erkenntnisweg, der das Naturbild vergeistigt <strong>und</strong> zugleich<br />
das Herankommen an die geistige Welt verwissenschaftlicht. Dazu muß sich Steiner<br />
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36 GA 51,a.a.O.