Marxismus und Anthroposophie - Institut für soziale Gegenwartsfragen
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Tierreihen sich durch Abzweigungen <strong>und</strong> umweltangepaßte Spezialisierungen entwickeln.<br />
13 So kann man z. B. jederzeit die Gebisse der Wiederkäuer, Raub- <strong>und</strong> Nagetiere<br />
vom menschlichen Gebiß als Spezialfälle ableiten, nicht aber umgekehrt. 14 Diese Idee<br />
führt die zunächst verblüffende Konsequenz mit sich, daß Mensch <strong>und</strong> Tier zwar einen<br />
gemeinsamen Ursprung haben, die Tiere aber, wie Steiner später formuliert, besonders<br />
die „Menschenaffen‘, „eine Dekadenzerscheinung von einem gemeinsamen Vorfahren<br />
(sind), von dem der Mensch den höheren Entwicklungsgrad darstellt.“ 15<br />
Ursprünglich ging Steiner nicht vom Snellschen, sondern von dem Haeckelschen Ansatz<br />
aus. Dabei interpretierte er allerdings die von Haeckel angenommene Entwicklungsreihe<br />
als etwas, worin der Geist die Lebewesen von den einfachen durch die komplizierteren<br />
bis herauf zum Menschen führe <strong>und</strong> sah den Darwinismus als eine Denkart, die auf<br />
dem Wege zur Goetheschen sei, aber doch hinter ihr zurückbleibe. Erst später formuliert<br />
er, „daß der Mensch als Geistwesen älter ist als alle anderen Lebewesen, <strong>und</strong> daß er, um<br />
seine gegenwärtige physische Gestaltung anzunehmen, sich aus einem Weltwesen herausgliedern<br />
mußte, das ihn <strong>und</strong> die anderen Organismen enthielt.“ Diese sind somit stehengebliebene<br />
Entwicklungsstufen, nicht etwas, aus dem der Mensch „hervorgegangen<br />
ist, sondern etwas, das er zurückgelassen, von sich abgesondert hat, um seine physische<br />
Gestaltung als Bild seines Geistigen anzunehmen.“ 16<br />
Steiner insistiert auf der vollen Übereinstimmung dieser Konzeption mit den Rückschlüssen,<br />
die der Biologe aus den Überresten vergangener Welten in den Gesteinsschichten<br />
der Erde ziehen kann. Der äußere Verlauf der Evolution hätte sich <strong>für</strong> einen<br />
externen Beobachter im Weltraum tatsächlich so dargestellt, wie aus solchen F<strong>und</strong>en<br />
erschlossen werden kann: die einfachsten Organismen sind zuerst da, nach <strong>und</strong> nach<br />
bilden sich die verschiedenen Pflanzen- <strong>und</strong> Tierarten, wobei der Mensch <strong>für</strong> eine solche<br />
äußere Beobachtung zuletzt, nach den ihm nahestehenden Säugern auftritt. Ein Konflikt<br />
mit der naturwissenschaftlichen Vorstellungsart ergibt sich <strong>für</strong> Steiner erst da, wo <strong>für</strong> diese<br />
das Evolutionsgeschehen im dergestalt sich äußerlich Darbietenden ganz aufgeht: In<br />
Wirklichkeit sei der geistige Mensch (unvollkommener entwickelt als der heutige) bereits<br />
im Erdenanfang da, als das Produkt früherer planetarischer Metamorphosen der Erde:<br />
Das Innere existiert vor dem Äußeren, es kristallisiert das Geistige das Materielle Etappe<br />
<strong>für</strong> Etappe aus sich heraus. Erst dann ist es <strong>für</strong> die äußere Beobachtung da, was man<br />
sich verbildlichen kann an dem Gefrieren von Eis aus Wasser <strong>und</strong> dessen Kondensation<br />
aus der noch unsichtbaren Luft, in der es gleichwohl von Anfang an (in anderer Form)<br />
enthalten war: „Außerlich ist der Mensch am spätesten in seiner heutigen Gestalt entstanden,<br />
als das jüngste der Geschöpfe; geistig ist er der Erstgeborene [...]“. 17 Die einfachsten<br />
Tiere sind das zuerst aus der geistigen Muttersubstanz Herausgefallene, physisch<br />
Gewordene; in ihnen können sich die ursprünglichen keimhaften Anlagen <strong>und</strong> Möglichkeiten<br />
der Evolution nur in unvollkommener <strong>und</strong> einseitiger Gestalt physisch abprägen,<br />
während der Mensch als physisch Letztgeborener sie auch physisch vollkommen<br />
herausarbeitet.<br />
Einem unhistorischen Verständnis des Mythos erscheint eine höhere Synthese von<br />
naturwissenschaftlichem Weltbild <strong>und</strong> religiösen Inhalten <strong>und</strong>enkbar; es tendiert dazu,<br />
den Mythos wörtlich zu nehmen, so als wäre er ein Produkt der heutigen Bewußtseinsverfassung.<br />
So betrachtet, erscheint dann natürlich das Sechs-Tage-Werk-Motiv der Genesis<br />
sich im unauflöslichen Widerspruch zum naturwissenschaftlich Festgestellten zu<br />
befinden. Steiner dagegen stellt zunächst einmal die Frage nach dem bewußtseinsgeschichtlichen<br />
Stellenwert <strong>und</strong> von da aus nach der Realitätshaltigkeit der alten Urk<strong>und</strong>en,<br />
interpretiert etwa die biblische Schöpfungsgeschichte als Dokument, das in einer Mysteriensprache<br />
geschrieben ist, die es erst wieder zu entschlüsseln gilt. Die Rekonstruktion<br />
des Sinnes, nicht etwa allegorische Bibelauslegung, soll die Widersprüche fortschaffen. 18<br />
Die These, daß die Welt ein Zusammenhang von materiellen Körpern oder Kräften ist,<br />
müßte schon aus rein philosophischen Gründen zurückgewiesen werden; sie ist, wie H.<br />
Witzenmann schreibt, als Begriffsurteil unhaltbar, da sich die Welt als Inbegriff des universellen<br />
Zusammenhangs nicht durch sich selbst mit einem speziellen Zusammenhang,<br />
wie es jener der materiellen Elemente ist, im Verhältnis der Identität befinden kann. „Die<br />
materiellen Zusammenhänge sind besondere Formen des allgemeinen geistigen Zu-<br />
51<br />
13<br />
Snell 1981 (1863/87).<br />
14<br />
Vgl. Hemleben 1968, 157ff., der in diesem Zshg. auch auf Lorenz Oken verweist.<br />
15<br />
GA 94, S. 25.<br />
16<br />
GA 28,S. 284f.<br />
17<br />
GA 56, Vortr. 9. 4. 1908.<br />
18<br />
Vgl. GA 122 <strong>und</strong> S. 272ff. im vorliegenden Buch.