06.01.2013 Aufrufe

Marxismus und Anthroposophie - Institut für soziale Gegenwartsfragen

Marxismus und Anthroposophie - Institut für soziale Gegenwartsfragen

Marxismus und Anthroposophie - Institut für soziale Gegenwartsfragen

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

der Voraussetzung der Materie“ (Marx) 38 . Die Materie ist deshalb an sich seiende, bewußtseinsunabhängige<br />

Realität, die im Erkenntnisprozeß widergespiegelt wird. Das erste<br />

in dieser Widerspiegelung ist „die Empfindung <strong>und</strong> in dieser die Qualität“ (Lenin) 39 . Widerspiegelung<br />

ist nicht toter Abklatsch, sondern Tätigkeit des Subjekts, in dem Wissen aus<br />

Nicht-Wissen entsteht. Die Determination der Erkenntnis durch die Praxis bedeutet Relativität<br />

des Wissens, nicht aber Relativismus. Das Wissen ist nicht einfach relativ, sondern<br />

relativ wahr, <strong>und</strong> nähert sich geschichtlich asymptotisch der absoluten Wahrheit (Lenin) 40 .<br />

Der „Empiriokritizist“ Avenarius will den Wahrheitsbegriff durch den Begriff des kleinsten<br />

Kraftmaßes ersetzen (Prinzip der Denkökonomie bei Mach) 41 . Ein Unterschied zwischen<br />

Sinneserlebnis <strong>und</strong> Sache soll nicht länger anerkannt werden. Materialismus <strong>und</strong><br />

Idealismus sind beide als „Metaphysik“ zu verwerfen, da sie Antworten auf ein Scheinproblem<br />

- das Subjekt-Objekt-Problem - darstellen. „Spiritualistische Illusionen“ wie die<br />

Unterscheidung zwischen Körper <strong>und</strong> Seele kommen durch sogenannte Introjektion zustande,<br />

durch die ein Erfahrungsinhalt gedanklich verdoppelt wird. Der wirkliche Erkenntnisakt,<br />

so sagt es der Physiker, Physikhistoriker <strong>und</strong> Empiriomonist Mach, enthält nichts,<br />

was nicht schon in der unmittelbaren Erfahrung enthalten ist. In der Nachfolge des absoluten<br />

Phänomenalismus von David Hume werden denn auch nur analytische, keine synthetischen<br />

Urteile a priori anerkannt. 42 Avenarius gesteht immerhin noch zu, daß Erkenntnis<br />

so etwas wie eine Relation zwischen Empfindendem <strong>und</strong> Empf<strong>und</strong>enem voraussetzt,<br />

<strong>und</strong> er schafft den Begriff der „Prinzipialkoordination“, um die Relation neu zu bestimmen:<br />

Außenwelt <strong>und</strong> Ich sind gleichwertig <strong>und</strong> prinzipiell miteinander koordinierte Glieder der<br />

Erfahrungswelt. Die Frage nach dem ontologischen Status beider Seiten außerhalb der<br />

jeweiligen Relation ist sinnlos. Wegen der Stetigkeit des Auftretens der Icherfahrung kann<br />

man das Individuum als Zentralglied bezeichnen; das, was früher Objekt genannt wurde,<br />

ist dann schlicht das, was <strong>für</strong> alle Zentralglieder numerisch 1 ist. (Einfacher ausgedrückt:<br />

In einem Raum, in dem ein Tisch steht, sehen alle Betrachter einen Tisch <strong>und</strong> nicht jeder<br />

einen anderen.) Mit dieser Fassung der Sache glaubt Avenarius, über die Hürde des<br />

Solipsismus hinweg zu sein.<br />

Avenarius <strong>und</strong> Mach interpretieren die Erkenntnis im übrigen biologisch als unter dem<br />

Überlebensgesichtspunkt herausgezüchtete „ökonomische“ Reaktionsweise. Sie werden<br />

damit zu Vorläufern der heutigen sogenannten evolutionären Erkenntnistheorie (G. Vollmer<br />

<strong>und</strong> andere) 43 . Bogdanow <strong>und</strong> andere gaben der skizzierten Philosophie eine Wendung<br />

ins Kollektivistische <strong>und</strong> versuchten sie innerhalb der bolschewistischen Partei populär<br />

zu machen. 44 Für Bogdanow besteht die objektive Existenz der Natur darin, daß sie<br />

<strong>für</strong> alle existiert: Natur ist ihm kollektiv organisierte Erfahrung. Neu gefaßt wird der Begriff<br />

des Zentralglieds: Die Zersplitterung der Erfahrungswelt in einzelne Erfahrungszentren<br />

wird als Reflex des <strong>soziale</strong>n Atomismus der bürgerlichen Gesellschaft interpretiert. In<br />

einer kommunistischen Gesellschaft sieht Bogdanow den Unterschied zwischen kollektiver<br />

<strong>und</strong> individueller Erfahrung sich auflösen, so daß man eigentlich nur noch von einem<br />

einzigen Zentralglied sprechen kann. Der Erkenntnisgehalt einer Idee besteht in der<br />

durch sie ermöglichten Steigerung der gesellschaftlichen Arbeitsenergie. Die Forderung<br />

nach dem totalen Bruch mit der bisherigen Wissenschaft <strong>und</strong> Kultur (Proletkult) ist eine<br />

Folgerung aus dieser Liquidierung des Wahrheitsbegriffs.<br />

Steiner sucht nach einem - so weit überhaupt möglich - voraussetzungsfreien Anfang<br />

der Erkenntnistheorie 45 , den er in der exakten seelischen Beobachtung des Anfangs des<br />

Erkenntnisvorgangs findet. Statt mit theoretischen Reflexionen über subjektive <strong>und</strong> objektive<br />

Bedeutung der Sinnes- <strong>und</strong> Begriffsqualitäten beziehungsweise über die Prinzipial-<br />

38<br />

MEW, Band 2, a.a.O., 1969, S. 49.<br />

39<br />

LW Band 14, S. 304.<br />

40<br />

Vgl. ebenda die Ausführungen zum Wahrheitsbegriff.<br />

41<br />

Vgl.auch im folgenden Kolakowski, Band II, S. 475-497. Als Primärliteratur kommt in Betracht: Avenarius,<br />

Philosophie als Denken der Welt gemäß dem Prinzip des kleinsten Kraftmaßes (1876); Kritik der reinen Erfahrung,<br />

2 Bände (1888-90); Mach, Die Mechanik in ihrer Entwicklung historisch-kritisch dargestellt.<br />

42<br />

Vgl. hierzu Strawe, <strong>Marxismus</strong> <strong>und</strong> <strong>Anthroposophie</strong>, Stuttgart 1986, S. 95ff.<br />

43<br />

Siehe zum Beispiel Gerhard Vollmer, Evolutionäre Erkenntnistheorie, in: Information Philosphie, Basel,<br />

Nov. 1984, S. 4ff.<br />

44<br />

Vgl. Anm. 160.<br />

45<br />

Zur Erkenntnistheorie vgl. außer Steiners Einleitungen zu Goethes Naturwissenschaftlich Schriften,<br />

Gr<strong>und</strong>linien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung, Wahrheit <strong>und</strong> Wissenschaft, Die Philosophie<br />

der Freiheit (GA 1-4): Strawe, a.a.O., S. 142ff; Herbert Witzenmann, Intuition <strong>und</strong> Beobachtung, 2 Bde.,<br />

Stuttgart 1977 <strong>und</strong> 1978; ders., Strukturphänomenologie. Vorbewußtes Gestaltbilden im erkennenden Wirklichkeitenthüllen.<br />

ein neues wissenschaftstheoretisches Konzept, Dornach 1983; Peter Schneider, Erkenntnistheoretische<br />

Gr<strong>und</strong>lagen der Waldorfpädagogik. In: St. Leber (Hrsg.), Die Pädagogik der Waldorfschulen <strong>und</strong> ihre<br />

Gr<strong>und</strong>lagen, Darmstadt 1985; ders., Waldorfpädagogik, Stuttgart 1985.<br />

220

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!