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Marxismus und Anthroposophie - Institut für soziale Gegenwartsfragen

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abgeleitet <strong>und</strong> von den Unteren hingenommen, sondern soll - zunächst der Theorie nach -<br />

von unten nach oben ausgerichtet sein. Wo vertikale Arbeitsteilung herrscht, soll sie sich<br />

allein von den Bedürfnissen der einzelnen, der Mehrheit, her legitimieren. Diese Durchsetzung<br />

des Persönlichkeitsrechts vollzieht sich in zwei Schüben, ihre Dialektik ist der<br />

Prozeß der Herausbildung der bürgerlichen Gesellschaft <strong>und</strong> das Streben nach einer<br />

sozialistischen. Diese soll die bloß formal gebliebenen Ideale der bürgerlichen Revolution<br />

<strong>für</strong> alle real verwirklichen: sie vollendet damit ebensogut den mit der Aufklärung begonnenen<br />

Prozeß, als sie einen Widerspruch zu seiner ersten Phase bildet.<br />

Mit der Bewußtseinsseelenkultur tritt der unternehmerische Typ, der homo oeconomicus,<br />

auf den Plan. Wo er sich als „häßlicher Kapitalist“ geriert, provoziert er die Rebellion<br />

der vielen einzelnen, die bei seiner Art der Wirtschaftsorganisation zu kurz kommen <strong>und</strong><br />

deren Selbstbewußtsein zugleich durch die gesellschaftlichen Verhältnisse geschärft<br />

wird. Steiner schildert den ganzen Prozeß in vielfacher Hinsicht parallel zu Marx, doch mit<br />

deutlich anderer Akzentsetzung: In der neueren Zeit will sich der Mensch bewußt „auf die<br />

Spitze seiner eigenen Persönlichkeit stellen“. Die „neuere kapitalistische Produktionsweise<br />

trägt dem Individualismus in einer gewissen Weise Rechnung. Die alten Berufsgemeinschaften<br />

wurden zersprengt, die wirtschaftliche Initiative ging an die einzelnen Menschen<br />

über an die Kapitalisten, welche Unternehmer waren <strong>und</strong> von deren Risikomut es<br />

abhing, ob nun das wirtschaftliche Leben gedieh oder nicht gedieh. Daneben entwickelte<br />

sich das moderne technische Wesen, welches ganz <strong>und</strong> gar umgestaltet, das ganze<br />

Wirtschaftsleben, welches eigentlich erst schuf die moderne Proletarierklasse. Und die<br />

Folge davon war, daß sich auf der einen Seite der Kapitalismus, auf der anderen Seite<br />

das Proletariat entwickelte“ <strong>und</strong> daß „durch die Unaufmerksamkeit <strong>und</strong> Uninteressiertheit<br />

der führenden Menschen“ <strong>für</strong> die Nöte der unteren Schichten „zuletzt ein völliges Nichtverstehen<br />

zwischen den führenden Kapitalisten <strong>und</strong> ihrem Anhange <strong>und</strong> der arbeitenden<br />

Proletarierbevölkerung eintrat.“ 3<br />

Der Bewußtseinsseelenkultur ist eine hierarchisch-autoritäre Sozialstruktur nicht mehr<br />

gemäß. Das ist der tiefere Gr<strong>und</strong> <strong>für</strong> die Notwendigkeit einer „klassenlosen Gesellschaft“:<br />

„Unser Zeitalter strebt über die Stände, strebt über die Klassen hinaus. Unser Zeitalter<br />

kann nicht mehr die Menschen in Klassen einteilen, sondern muß den Menschen in seiner<br />

Gesamtheit gelten lassen <strong>und</strong> in eine solche <strong>soziale</strong> Struktur hineinstellen, daß nur<br />

das von ihm Abgesonderte sozial gegliedert ist.“ 4 D.h. daß die von Steiner anvisierte<br />

Dreigliederung des <strong>soziale</strong>n Organismus nichts mit einer ständischen Ordnung im Sinne<br />

etwa von Platos Wehrstand-Lehrstand-Nährstand-Gliederung zu tun haben soll. Steiner<br />

betont die Notwendigkeit von Demokratie:<br />

„Heute ist die Zeit, wo man lernen muß den Unterschied zwischen herrschen <strong>und</strong> regieren<br />

[...] Herrschen muß heute das Volk, die Regierung darf nur regieren. Das ist es,<br />

worauf es ankommt.“ 5<br />

Die historische St<strong>und</strong>e <strong>für</strong> die „Emanzipation der Volksmassen“ hat geschlagen. Aber<br />

diese Emanzipation ist in Wirklichkeit eine der vielen einzelnen: kollektivistische Bewußtseinshaltungen<br />

sind Rückfälle, die sie entstellen. Klassenlagen sind heute mehr denn je<br />

von einzelnen durchlebte Schicksalsumstände. Daß Solidarität, gemeinsames Handeln,<br />

kollektive Aktion, Organisation usw. ihre Berechtigung haben, ist unbestritten; es geht um<br />

das Ziel: die neue Gesellschaft muß von dem Schutz des einzelnen ausgehen, seinem<br />

individuellen Handlungswillen alle möglichen Spielräume eröffnen; alles andere wäre<br />

reaktionär. Die Unterordnung der gesamten Gesellschaft unter eine Parteihierarchie ist<br />

nicht etwa eine besonders moderne Sozialgestalt, sondern eine Reminiszenz: eine säkularisierte<br />

Form theokratischer Herrschaft. Daß es dazu kommt, in stärkerem oder schwächerem<br />

Maße, hängt nicht zuletzt mit der Todfeindschaft zusammen, gegen die der Sozialismus<br />

sich behaupten mußte, <strong>und</strong> mit den Denkgewohnheiten der Massen. Auf diese<br />

Situation schien es historisch nur zwei Antworten zu geben: die des Kompromisses mit<br />

dem System, wie ihn die Sozialdemokratie beschritt, <strong>und</strong> den des revolutionären Machterwerbs<br />

mit anschließender autoritärer Machtsicherung in Form einer kommunistischen<br />

„Erziehungsdiktatur“. Diese Antwort entgeht aber letztlich nicht dem von Marx beschrie-<br />

166<br />

3 GA 188, S. 204.<br />

4 GA 186, S. 165.<br />

5 Nach Kugler 1978, S. 211.

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