06.01.2013 Aufrufe

Marxismus und Anthroposophie - Institut für soziale Gegenwartsfragen

Marxismus und Anthroposophie - Institut für soziale Gegenwartsfragen

Marxismus und Anthroposophie - Institut für soziale Gegenwartsfragen

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

en - im Sinne des Entropiesatzes - zu Ziel- <strong>und</strong> Spannungslosigkeit, Streuung der Energie<br />

statt ihrer Bündelung: alles bloß raum-zeitliche Geschehen ist auf ein Ende angelegt.<br />

Das Verhältnis von Endlichem <strong>und</strong> Unendlichem, von Zeitlichem <strong>und</strong> Ewigen erscheint<br />

als tiefstes Rätsel. Steiner knüpft in seinen Betrachtungen dazu häufig an mathematischen<br />

Problemstellungen an, eine Herangehensweise, die in der Tradition der mathematischen<br />

Grenzbetrachtungen des Nikolaus von Kues steht. Wir können das Unendliche<br />

nicht vorstellen, wohl aber denken. In der Infinitesimalrechnung werden wir „mathematisch<br />

aus dem Sinnlich-Anschaulichen hinausgeführt, <strong>und</strong> wir bleiben dabei so sehr im<br />

Wirklichen, daß wir das Unanschauliche berechnen. Und haben wir gerechnet, dann erweist<br />

sich das Anschauliche als das Ergebnis unserer Rechnung aus dem Unanschaulichen<br />

heraus. Mit der Anwendung der Infinitesimalrechnung auf die Naturvorgänge in<br />

Mechanik <strong>und</strong> Physik vollziehen wir in der Tat nichts anderes, als daß wir Sinnliches aus<br />

Übersinnlichem errechnen.“ 37 In der nichteuklidischen Geometrie sieht er eine der wichtigsten<br />

Errungenschaften der neueren Wissenschaftsentwicklung, über die darauf bauende<br />

Relativitätstheorie urteilt er zurückhaltender: <strong>für</strong> die physische Welt werde man ihr<br />

nicht entkommen, aber eben dadurch in die Geist-erkenntnis getrieben werden. Mit den<br />

Mitteln der nichteuklidischen Geometrie läßt sich bis zur Idee des Gegenraums vorstoßen,<br />

die dem mathematischen Denken den Zugang zur Wirksamkeit des „Ätherischen“<br />

öffnet. Bereits <strong>für</strong> den jungen Steiner macht die neue Geometrie eine Revision des Zeitbegriffs<br />

denkbar. Wie sich der Raum nicht mehr als eine nach allen Seiten ins Unendliche<br />

verlaufende Leere denken läßt, sondern eine nach rechts ins Unendliche verlängerte<br />

Gerade von links an ihren Ausgangspunkt zurückkehrt, so werde auch <strong>für</strong> die Zeit die<br />

Vorstellung möglich, daß die unendlich ferne Zukunft ein Zurückkommen in die Vergangenheit<br />

ideell in sich enthalte. 38<br />

„Zeit“ existiert nur im Hinblick auf Entstehen <strong>und</strong> Vergehen, vom endlichen Standpunkt<br />

aus betrachtet, während vom Standpunkt des Ewigen her aller Tod - wie ein von Steiner<br />

häufig zitiertes Goethe-Wort besagt - nur Kunstgriff der Natur ist, um möglichst viel Leben<br />

zu haben. Ewigkeit ist Anfangslosigkeit, Immer-schon-angefangen-Haben, also nicht bloß<br />

„Unsterblichkeit“, sondern auch „Ungeborenheit“. Gerade das unterscheidet Steiner von<br />

der traditionellen kirchlichen Unsterblichkeitsvorstellung. Gewöhnlich betrachtet der<br />

Mensch die Dinge vom Standpunkt des Endlichen <strong>und</strong> erlebt sich aus der Vergangenheit<br />

kommend, vom Jetzt-Punkt weg zu einem anderen Zeitpunkt schreitend. Dieses Alltagserleben<br />

beruht aber, wie die nähere Betrachtung zeigt, auf einer falschen Verräumlichung<br />

der Zeit. Die Vergangenheit war Gegenwart <strong>und</strong> die Zukunft wird Gegenwart sein. Ich<br />

kann eine Vergangenheit <strong>und</strong> eine Zukunft in Wahrheit nur auf mich als einen Gegenwärtigen<br />

beziehen, <strong>und</strong> diese Gegenwärtigkeit ist ihrem Wesen nach überzeitlich, nur daß sie<br />

im gewöhnlichen Bewußtsein nicht vollzogen wird. „Die zeitliche Gegenwart ist ein<br />

Selbstwiderspruch. In der Zeit existiert nur Vergangenheit <strong>und</strong> Zukunft, letztere als eine<br />

Extrapolation des Zeitflusses, den der Mensch nur in seiner Vergangenheitsform erfährt,<br />

auf das noch nicht Geschehene. Die essentielle Gegenwärtigkeit berührt sich mit der<br />

Zeit-Welt in dem Punkte der sogenannten zeitlichen Gegenwart. Wer diesen Punkt erlebt,<br />

weiß, daß er nur ein Berührungspunkt ist, der ewigen Gegenwart mit der Zeit“, schreibt<br />

Georg Kühlewind. 39 Ewigkeit ist Allgegenwärtigkeit, in der A <strong>und</strong> O zusammenfallen: Die<br />

Ewigkeit eines lebendigen Gottes kann das menschliche Denken zwar nicht ausmessen,<br />

aber es kann sie doch denken, während die Vorstellung einer ewigen Materie scheitert.<br />

Der Materialismus <strong>für</strong>chtet, mit dem raum-zeitlichen Inhalt überhaupt jeden Inhalt zu<br />

verlieren: wo keine Materie ist, scheint ihm das reine Nichts. Die spirituelle Erfahrung, von<br />

der Steiner spricht, hat aber gerade einen über-raum-zeitlichen Inhalt. Das Überschreiten<br />

der Grenze des Zeitlichen zum Ewigen ist <strong>für</strong> Steiner keine abstrakte Negation der Zeit,<br />

nicht einfach ihr Verschwinden: Zeit wird selbst - durch das Moment der übergreifenden<br />

Gegenwärtigkeit - zu einem übersinnlichen Raum. Vor dem sicher scheinenden Tod Gerettete<br />

berichten von einer tableauartigen Zusammenschau von Lebensetappen, einer Art<br />

Panorama von blitzartiger Gleichzeitigkeit. In den Phasen des organischen Wachstums<br />

wirkt ein überzeitliches Moment: sie fallen nicht auseinander, sondern sind Momente<br />

einer integrierenden Zeitgestalt.<br />

Im Rhythmus verbinden sich die beiden Zeit-Aspekte Verfließen <strong>und</strong> Kreisen. Die Geschehensabläufe<br />

in der Natur weisen Rhythmen auf, ebenfalls die menschliche Biografie.<br />

Rhythmischer Wechsel ist nicht bloß ewige Wiederkehr des Gleichen, sondern Steige-<br />

55<br />

37<br />

GA 35, Mathematik <strong>und</strong> Okkultismus, S. 12.<br />

38<br />

Vgl. GA 234, S. 23; GA 18, 23f.; Texte zur Relativitätstheorie.<br />

39<br />

Kühlewind 1982, S. 68f.

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!