06.01.2013 Aufrufe

Marxismus und Anthroposophie - Institut für soziale Gegenwartsfragen

Marxismus und Anthroposophie - Institut für soziale Gegenwartsfragen

Marxismus und Anthroposophie - Institut für soziale Gegenwartsfragen

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

37<br />

Der Materiebegriff des <strong>Marxismus</strong>:<br />

2. Materie, Bewegung, Raum <strong>und</strong> Zeit<br />

Einen entscheidenden Mangel des bisherigen Materialismus sahen Marx <strong>und</strong> Engels<br />

in dessen Unfähigkeit, „die Welt als einen Prozeß, als einen in einer geschichtlichen Fortbildung<br />

begriffenen Stoff aufzufassen“ 1 : Die einzige Bewegungsform, die der alte Materialismus<br />

kennt, ist die mechanische, während der dialektische Materialismus die Bewegung<br />

als Veränderung <strong>und</strong> Entwicklung im umfassenden Sinne begreift. Die Bewegung ist<br />

absolut, alle Zustände der Ruhe <strong>und</strong> Erstarrung nur relativ: Jeder scheinbar ruhende<br />

Körper bewegt sich z. B. mit der Erde um die Sonne; feste Strukturen sind nichts anderes<br />

als geronnene Bewegungen, ihre Stabilität ist das Ergebnis des Wechselspiels ihrer Elemente.<br />

Materie ohne Bewegung ist schlechterdings <strong>und</strong>enkbar, Bewegung daher „das<br />

allgemeinste Attribut, die Daseinsweise der Materie“ 2 .<br />

Energie versucht man auf Materiebewegung zu reduzieren: Die „aktive Bewegung<br />

nennen wir Kraft, die passive Kraftäußerung“, schrieb Engels. Die Meßbarkeit der Bewegung<br />

gebe der Kategorie Kraft ihren Wert, sonst habe sie keinen. Die Kraftvorstellung sei<br />

im Gr<strong>und</strong>e ein unzulässiger Anthropomorphismus: „Die Vorstellung von der Kraft kommt<br />

uns ganz von selbst dadurch, daß wir am eigenen Körper Mittel besitzen, Bewegungen<br />

zu übertragen, die innerhalb gewisser Grenzen durch unseren Willen in Tätigkeit gesetzt<br />

werden können, besonders die Muskeln der Arme, mit denen wir mechanische Ortsveränderung,<br />

Bewegung andrer Körper hervorbringen, heben, tragen, werfen, schlagen etc.,<br />

<strong>und</strong> damit bestimmte Nutzeffekte. Die Bewegung hier scheinbar erzeugt, nicht übertragen,<br />

<strong>und</strong> dies veranlaßt die Vorstellung, als ob Kraft überhaupt Bewegung erzeuge. Daß<br />

Muskelkraft auch nur Übertragung, jetzt erst physiologisch bewiesen.“ 3<br />

„Reine Bewegung“ ohne Materie oder „reine Energie“ wird als Unding bezeichnet.<br />

Man kommt hier in gewisse definitorische Schwierigkeiten. Im Sinne der Materiedefinition<br />

Lenins wäre Energie eine Form von Materie, andererseits soll sie dann doch bloß eine<br />

„Eigenschaft der Materie“ sein, ein „quantitatives Maß der Bewegung <strong>und</strong> die Fähigkeit<br />

materieller Systeme, auf der Gr<strong>und</strong>lage innerer Veränderungen eine bestimmte Arbeit zu<br />

verrichten.“ Energie existiere nicht losgelöst von der Materie <strong>und</strong> trete immer gemeinsam<br />

mit anderen Eigenschaften materieller Körper in Erscheinung. 4<br />

Die Gr<strong>und</strong>formen der Materiebewegung - physikalische, chemische, biologische <strong>und</strong><br />

<strong>soziale</strong> - werden in einem hierarchischem Verhältnis zueinander gedacht: Die höheren<br />

Formen sind aus den niederen entstanden, sollen aber nicht auf sie reduziert werden -<br />

ein Fehler des mechanischen Materialismus, der die qualitative Spezifik <strong>und</strong> relative Eigengesetzlichkeit<br />

der höheren Bewegungsformen übersah. So sollen z. B. die Gesetze<br />

des Organisehen nicht auf die der Physik <strong>und</strong> Chemie reduziert werden, obwohl die letzteren<br />

auch in den Organismen wirken, deren höhere Gesetzmäßigkeit ohne diese Basis<br />

nicht existieren könnte. Ja, die Entstehung der jeweils höheren Form soll durch die in der<br />

niederen wirkende Gesetzmäßigkeit ursächlich bedingt sein, trotzdem aber soll die von<br />

den Entwicklungs- <strong>und</strong> Bewegungsgesetzen der niederen Form bewirkte höhere ihre<br />

Ursache überbieten, ihr gegenüber etwas qualitativ Neues darstellen. Es bedarf nach<br />

dieser Auffassung keines göttlichen Eingriffs oder geistigen Einschlags in die Evolution,<br />

um deren Sprünge, um die Entstehung des Lebens <strong>und</strong> des Bewußtseins, um die Steigerung<br />

zu immer höheren Daseinsformen zu begründen. Vielmehr soll die immanente Aktivität<br />

der Materie, ihre „Selbstbewegung“, die Sprünge in der Evolution zustandebringen:<br />

Materie sei eben keine „träge Masse“, die des äußeren Anstoßes durch einen göttlichen<br />

Erstbeweger oder eines inneren geistig-göttlichen Bewegungsantriebs bedürfe:<br />

„Niemals <strong>und</strong> nirgends hat in der Welt etwas existiert <strong>und</strong> wird etwas existieren, was<br />

nicht Materie in ihrer Bewegung oder von dieser hervorgebracht ware. Darin besteht die<br />

Einheit der Welt.“ 5 Eine lange Entwicklung der Philosophie <strong>und</strong> der Naturwissenschaften<br />

sei die Bestätigung dieser These, eine Entwicklung, wie sie im Kapitel „Atombegriff“ bereits<br />

knapp charakterisiert wurde. Vom Nachweis der Materialität der Gestirne durch Gravitationstheorie<br />

<strong>und</strong> Spektralanalyse, über die Gesetze der Energieerhaltung, die die<br />

1<br />

Engels, MEW 21, S. 27ff.<br />

2<br />

Engels, MEW 20, S. 55; vgl. auch im folgenden, Konstantinow, S. 75ff.<br />

3<br />

Engels, a.a.O., S. 55, 541, 544.<br />

4<br />

Konstantinow, S. 77.<br />

5<br />

a.a.O., S. 94. Vgl. S. 93 <strong>und</strong> Engels, MEW 20, S. 41.

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!