Marxismus und Anthroposophie - Institut für soziale Gegenwartsfragen
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Der Materiebegriff des <strong>Marxismus</strong>:<br />
2. Materie, Bewegung, Raum <strong>und</strong> Zeit<br />
Einen entscheidenden Mangel des bisherigen Materialismus sahen Marx <strong>und</strong> Engels<br />
in dessen Unfähigkeit, „die Welt als einen Prozeß, als einen in einer geschichtlichen Fortbildung<br />
begriffenen Stoff aufzufassen“ 1 : Die einzige Bewegungsform, die der alte Materialismus<br />
kennt, ist die mechanische, während der dialektische Materialismus die Bewegung<br />
als Veränderung <strong>und</strong> Entwicklung im umfassenden Sinne begreift. Die Bewegung ist<br />
absolut, alle Zustände der Ruhe <strong>und</strong> Erstarrung nur relativ: Jeder scheinbar ruhende<br />
Körper bewegt sich z. B. mit der Erde um die Sonne; feste Strukturen sind nichts anderes<br />
als geronnene Bewegungen, ihre Stabilität ist das Ergebnis des Wechselspiels ihrer Elemente.<br />
Materie ohne Bewegung ist schlechterdings <strong>und</strong>enkbar, Bewegung daher „das<br />
allgemeinste Attribut, die Daseinsweise der Materie“ 2 .<br />
Energie versucht man auf Materiebewegung zu reduzieren: Die „aktive Bewegung<br />
nennen wir Kraft, die passive Kraftäußerung“, schrieb Engels. Die Meßbarkeit der Bewegung<br />
gebe der Kategorie Kraft ihren Wert, sonst habe sie keinen. Die Kraftvorstellung sei<br />
im Gr<strong>und</strong>e ein unzulässiger Anthropomorphismus: „Die Vorstellung von der Kraft kommt<br />
uns ganz von selbst dadurch, daß wir am eigenen Körper Mittel besitzen, Bewegungen<br />
zu übertragen, die innerhalb gewisser Grenzen durch unseren Willen in Tätigkeit gesetzt<br />
werden können, besonders die Muskeln der Arme, mit denen wir mechanische Ortsveränderung,<br />
Bewegung andrer Körper hervorbringen, heben, tragen, werfen, schlagen etc.,<br />
<strong>und</strong> damit bestimmte Nutzeffekte. Die Bewegung hier scheinbar erzeugt, nicht übertragen,<br />
<strong>und</strong> dies veranlaßt die Vorstellung, als ob Kraft überhaupt Bewegung erzeuge. Daß<br />
Muskelkraft auch nur Übertragung, jetzt erst physiologisch bewiesen.“ 3<br />
„Reine Bewegung“ ohne Materie oder „reine Energie“ wird als Unding bezeichnet.<br />
Man kommt hier in gewisse definitorische Schwierigkeiten. Im Sinne der Materiedefinition<br />
Lenins wäre Energie eine Form von Materie, andererseits soll sie dann doch bloß eine<br />
„Eigenschaft der Materie“ sein, ein „quantitatives Maß der Bewegung <strong>und</strong> die Fähigkeit<br />
materieller Systeme, auf der Gr<strong>und</strong>lage innerer Veränderungen eine bestimmte Arbeit zu<br />
verrichten.“ Energie existiere nicht losgelöst von der Materie <strong>und</strong> trete immer gemeinsam<br />
mit anderen Eigenschaften materieller Körper in Erscheinung. 4<br />
Die Gr<strong>und</strong>formen der Materiebewegung - physikalische, chemische, biologische <strong>und</strong><br />
<strong>soziale</strong> - werden in einem hierarchischem Verhältnis zueinander gedacht: Die höheren<br />
Formen sind aus den niederen entstanden, sollen aber nicht auf sie reduziert werden -<br />
ein Fehler des mechanischen Materialismus, der die qualitative Spezifik <strong>und</strong> relative Eigengesetzlichkeit<br />
der höheren Bewegungsformen übersah. So sollen z. B. die Gesetze<br />
des Organisehen nicht auf die der Physik <strong>und</strong> Chemie reduziert werden, obwohl die letzteren<br />
auch in den Organismen wirken, deren höhere Gesetzmäßigkeit ohne diese Basis<br />
nicht existieren könnte. Ja, die Entstehung der jeweils höheren Form soll durch die in der<br />
niederen wirkende Gesetzmäßigkeit ursächlich bedingt sein, trotzdem aber soll die von<br />
den Entwicklungs- <strong>und</strong> Bewegungsgesetzen der niederen Form bewirkte höhere ihre<br />
Ursache überbieten, ihr gegenüber etwas qualitativ Neues darstellen. Es bedarf nach<br />
dieser Auffassung keines göttlichen Eingriffs oder geistigen Einschlags in die Evolution,<br />
um deren Sprünge, um die Entstehung des Lebens <strong>und</strong> des Bewußtseins, um die Steigerung<br />
zu immer höheren Daseinsformen zu begründen. Vielmehr soll die immanente Aktivität<br />
der Materie, ihre „Selbstbewegung“, die Sprünge in der Evolution zustandebringen:<br />
Materie sei eben keine „träge Masse“, die des äußeren Anstoßes durch einen göttlichen<br />
Erstbeweger oder eines inneren geistig-göttlichen Bewegungsantriebs bedürfe:<br />
„Niemals <strong>und</strong> nirgends hat in der Welt etwas existiert <strong>und</strong> wird etwas existieren, was<br />
nicht Materie in ihrer Bewegung oder von dieser hervorgebracht ware. Darin besteht die<br />
Einheit der Welt.“ 5 Eine lange Entwicklung der Philosophie <strong>und</strong> der Naturwissenschaften<br />
sei die Bestätigung dieser These, eine Entwicklung, wie sie im Kapitel „Atombegriff“ bereits<br />
knapp charakterisiert wurde. Vom Nachweis der Materialität der Gestirne durch Gravitationstheorie<br />
<strong>und</strong> Spektralanalyse, über die Gesetze der Energieerhaltung, die die<br />
1<br />
Engels, MEW 21, S. 27ff.<br />
2<br />
Engels, MEW 20, S. 55; vgl. auch im folgenden, Konstantinow, S. 75ff.<br />
3<br />
Engels, a.a.O., S. 55, 541, 544.<br />
4<br />
Konstantinow, S. 77.<br />
5<br />
a.a.O., S. 94. Vgl. S. 93 <strong>und</strong> Engels, MEW 20, S. 41.