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Marxismus und Anthroposophie - Institut für soziale Gegenwartsfragen

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102<br />

Die Erkenntniswissenschaft Rudolf Steiners<br />

<strong>und</strong> der <strong>Marxismus</strong><br />

In den vorangegangenen Kapiteln dürfte bereits deutlich geworden sein, daß die erkenntniswissenschaftliche<br />

F<strong>und</strong>ierung eine zentrale Rolle in Steiners Denken spielt. Die<br />

Erkenntnistheorie bildet <strong>für</strong> ihn die notwendige Gr<strong>und</strong>lage aller wissenschaftlichen Arbeit,<br />

untersucht sie doch dasjenige, was alle übrigen Wissenschaften ungeprüft voraussetzen,<br />

das Erkennen selbst. So erst kann sich Wert <strong>und</strong> Bedeutung der einzelwissenschaftlichen<br />

Erkenntnisse herausstellen. Um ihrer Aufgabe gerecht zu werden, muß aber die Erkenntnistheorie,<br />

soweit die Struktur des menschlichen Erkenntnisvermögens dies überhaupt<br />

erlaubt, voraussetzungslos sein. 1<br />

In seiner Einschätzung der Bedeutung der Erkenntnistheorie stimmt Steiner mit den<br />

seinerzeit philosophisch tonangebenden Neukantianern überein, inhaltlich befindet er<br />

sich jedoch in entschiedener Frontstellung zu ihnen <strong>und</strong> will den Kant-Glauben überwinden<br />

helfen, ohne freilich die Verdienste des Königsbergers schmälern zu wollen. Steiner<br />

will nicht wie Kant vor der Erkenntnis feststellen, was diese nicht leisten kann, sondern<br />

vielmehr untersuchen, wie sie möglich ist, <strong>und</strong> ins rechte Licht setzen, was sie leistet. Die<br />

Lösung beginnt mit der richtigen Problemstellung, - an der es in der Erkenntnistheorie<br />

bisher gemangelt habe. Deshalb sucht Steiner bei der Analyse des Erkenntnisaktes auf<br />

dessen letzte Elemente zurückzugehen <strong>und</strong> so die Gr<strong>und</strong>frage der Erkenntnistheorie<br />

richtig <strong>und</strong> sauber zu formulieren. Er verweist in diesem Zusammenhang auf die überall<br />

in den erkenntnistheoretischen Systemen vorhandenen versteckten Voraussetzungen,<br />

die er mit Kants Gr<strong>und</strong>frage nach der Möglichkeit synthetischer Urteile a priori in Verbindung<br />

bringt. In dieser liegen Steiner zufolge bereits zwei dogmatische Voraussetzungen,<br />

daß nämlich alles Erfahrungswissen prinzipiell nur bedingte Gültigkeit haben könne, <strong>und</strong><br />

daß es neben der Erfahrung noch einen anderen Weg der Erkenntnis geben müsse. Diese<br />

Voraussetzungen übernimmt Kant von seinen Vorgängern, besonders von Hume,<br />

ohne sie in seinen Untersuchungen noch einmal zu hinterfragen, als ob sie nicht in besonderem<br />

Maße zunächst der erkenntnistheoretischen Rechtfertigung bedürften. 2<br />

Der Fehler der bisherigen Erkenntnistheorie lag nach Steiner daran, daß sie Fragen,<br />

deren Entscheidung schon dem Gebiet der Erkenntnis angehört - wie z. B. die nach dem<br />

Verhältnis von Materie <strong>und</strong> Bewußtsein, Subjekt <strong>und</strong> Objekt - an den Anfang der Erkenntnistheorie<br />

gestellt <strong>und</strong> damit das Postulat der Voraussetzungslosigkeit verletzt hat.<br />

Diesen kritischen Einwand Steiners würde man mit ähnlichem Recht gegenüber der neopositivistischen<br />

oder kritisch-rationalistischen Beleuchtung des Erkenntnisproblems vorbringen<br />

können. Denn, ob man nun vom Verifikations- oder Falsifikationsprinzip ausgeht,<br />

in beiden Fällen muß man bereits identifizierte Erfahrungen, also Erkenntnis voraussetzen.<br />

Die Verifikation des Satzes: Auf diesem Tisch liegt jetzt eine Büroklammer, setzt den<br />

Akt voraus, durch den etwas als Tisch, Büroklammer usw. identifiziert <strong>und</strong> durch die Termini<br />

„jetzt“ <strong>und</strong> „liegen“ aufeinander bezogen werden kann. Die Falsifikation des Allsatzes:<br />

Alle Schwäne sind weiß, durch die Beobachtung eines schwarzen Schwans, setzt<br />

den Erkenntnisakt voraus, durch den irgend ein Etwas als Schwan identifiziert werden<br />

kann, erklärt ihn also nicht. 3<br />

Steiners Forschungsstrategie besteht in der Suche nach einem voraussetzungslosen<br />

Anfang, nach dem Ort der Genesis der Erkenntnis aus der Nicht-Erkenntnis. Er versucht<br />

ein außerhalb der Erkenntnis liegendes Gebiet aufzufinden, das dem Erkenntnisgebiet<br />

jedoch unmittelbar vorgelagert ist, so daß man hoffen darf, von ihm ausgehend, den Anfang<br />

der Erkenntnis rekonstruieren zu können. Dieses Gebiet, findet er in dem Bild der<br />

Welt, „das dem Menschen vorliegt, bevor er es in irgendeiner Weise dem Erkenntnisprozeß<br />

unterworfen hat, also bevor er auch nur die allergeringste Aussage über dasselbe<br />

gemacht, die allergeringste Bestimmung an demselben vorgenommen hat. Was da an<br />

uns vorüberzieht, dieses zusammenhanglose <strong>und</strong> doch auch nicht in individuelle Einzelheiten<br />

gesonderte Weltbild, in dem nichts voneinander unterschieden, nichts aufeinander<br />

bezogen ist, nichts durch ein anderes bestimmt erscheint: das ist das unmittelbar Gegebene<br />

[...] Wenn ein Wesen mit vollentwickelter Intelligenz plötzlich aus dem Nichts geschaffen<br />

würde <strong>und</strong> der Welt gegenüberträte, so wäre der erste Eindruck, den letztere auf<br />

1 Vgl. GA 3, S. 120. Man vgl. stets auch in GA 2 <strong>und</strong> 4.<br />

2 Vgl. GA 3, S. 111, 115, 28.<br />

3 Zum Verhältnis der Erkenntnistheorie Steiners <strong>und</strong> der modernen Wissenschaftstheorien vgl. Kiene 1984.

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