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Marxismus und Anthroposophie - Institut für soziale Gegenwartsfragen

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Habermas arbeitet das Thema der Dialektik der Aufklärung weiter aus: Für das aufklärerische<br />

Denken des revolutionären Bürgertums sind Erkenntnis <strong>und</strong> Interesse ungeschieden,<br />

ist die Vernunft Instrument der Emanzipation, daher ist ein Wertfreiheitspostulat<br />

<strong>für</strong> dieses Denken sinnlos. Habermas verweist auf Fichte, <strong>für</strong> den Vernunft <strong>und</strong> Wille,<br />

Verstehen <strong>und</strong> Gestalten eins gewesen seien. Marx habe den Zusammenhang von Vernunft<br />

<strong>und</strong> Interesse beibehalten. Allerdings fließe das Emanzipatorische bei ihm nicht wie<br />

bei Fichte aus einem moralischem Bewußtsein, sondern ergebe sich aus dem Zur-<br />

Deckung-Kommen von befreiender Arbeit der Vernunft <strong>und</strong> dem Prozeß der gesellschaftlichen<br />

Befreiung.<br />

Der Fortschritt von Wissenschaft, Technik <strong>und</strong> bürokratischer Organisation 31 zerreiße<br />

nun diesen Zusammenhang von Vernunft <strong>und</strong> Interesse. Vernunft werde rein technischinstrumentell,<br />

entsage jeder sinnschöpferischen Funktion <strong>und</strong> diene bloß noch materieller<br />

oder <strong>soziale</strong>r Technik. Sie begnüge sich damit, „wertfrei“ die Mittel zur Erreichung dezisionistisch-außervernünftig<br />

zustande gekommener Ziele zu untersuchen, alle gr<strong>und</strong>legenden<br />

Alternativen unter dem Gesichtspunkt einer Sachzwangideologie zu negieren.<br />

Schöpferische selbstbestimmte Praxis sei auf diese Weise verunmöglicht, das erkenntnisleitende<br />

Interesse ein von vornherein borniertes, nicht auf die Erweiterung menschlicher<br />

Verständigungs- <strong>und</strong> Gestaltungsmöglichkeiten orientiertes.<br />

Habermas sucht den Punkt, in dem Vernunft <strong>und</strong> Interesse beziehungsweise Wille zusammenfallen<br />

<strong>und</strong> findet ihn in der Reflexion der Reflexion (Selbstreflexion). Hier liegt <strong>für</strong><br />

Habermas der Quellort emanzipatorischer Vernunft, im Gegensatz zur instrumentellen,<br />

hier decken sich Vernunft <strong>und</strong> Wille, Zielbestimmung <strong>und</strong> Mittelanalyse.<br />

Marx wolle die Subjektwerdung des Menschen, aber im <strong>Marxismus</strong> sei die Aufgabe<br />

der Steuerung der Gesellschaft immer wieder als technische Anpassung mißverstanden<br />

worden, was zur erneuten Behandlung des Menschen als manipulierbares Objekt geführt<br />

habe. Sowohl der „Plankapitalismus“ als auch der bürokratische Sozialismus verstärke<br />

die Verdinglichung, statt sie aufzuheben.<br />

Habermas bemängelt, daß <strong>für</strong> Marx Vernunftinteresse <strong>und</strong> Interesse der Emanzipation<br />

nicht mit einem praktischen intellektuellen Vermögen zusammenfallen.<br />

Die Geste totaler Negation ohne klare praktische Alternative, wie wir sie zum Beispiel<br />

bei Adorno finden, ließ in der Studentenbewegung der 60er Jahre den Stern der Frankfurter<br />

Schule schließlich verblassen. Denn man suchte damals Konzepte praktischer<br />

Veränderung. Für einige Zeit wurde der den Frankfurtern nahestehende, aber deutlich<br />

revolutionärere Akzente setzende Herbert Marcuse (1898 - 1979) 32 zur Leitfigur einer<br />

„Neuen Linken“. Zwar glaubte auch Marcuse, daß die Arbeiterklasse ins kapitalistische<br />

System integriert <strong>und</strong> keine revolutionäre Potenz mehr sei. Da<strong>für</strong> sah er in den „Randgruppen“<br />

des Kapitalismus im Verein mit den Unterdrückten der dritten Welt das mögliche<br />

Subjekt der Veränderung. Seine Parolen von der „großen Weigerung“ <strong>und</strong> notwendiger<br />

„Gegengewalt“, vom Kampf gegen „Konsumterror“ <strong>und</strong> „repressive Toleranz“ fielen auf<br />

ebenso fruchtbaren Boden wie seine Kritik an gesellschaftlich bedingter sexueller Unterdrückung:<br />

Die Hippie-Parole „Make love, not war“ spricht von der Stimmung jener Tage.<br />

Dabei war Marcuse ein Platoniker, der nach einem ontologischen Begriff von Wahrheit<br />

strebte: Wahrheit war <strong>für</strong> ihn eine Wesenswirklichkeit höherer Art, die zugleich normativen<br />

Charakter hat. Die Spannung zwischen ihr <strong>und</strong> der bestehenden Erscheinungswelt<br />

galt ihm als die Triebkraft der Befreiung. Aus diesem Blickwinkel kritisierte er ein positivistisch<br />

steriles Denken, das sich dieser Wesenswelt, in der Logos <strong>und</strong> Eros 33 eins sind,<br />

verschließt <strong>und</strong> dem deshalb das jeweils Bestehende auch schon als das Wahre gilt.<br />

Auch wenn Marcuse selber dies anders sah, so war dies sicherlich kein <strong>Marxismus</strong> mehr.<br />

Innerhalb der Studentenbewegung setzte nach kurzer Zeit ein deutlicher Trend zu traditionsmarxistischen<br />

Strömungen ein, schienen doch Streikbewegungen der Arbeiterschaft<br />

darauf hinzudeuten, daß in dieser Klasse doch noch die Potenzen steckten, die<br />

Marx, Engels <strong>und</strong> Lenin ihr zugetraut hatten. So widmete man sich denn entweder der<br />

„Rekonstruktion der Arbeiterbewegung“ oder schloß sich den bestehenden Arbeiterorga-<br />

31 Habermas untersucht die Wandlungen des Spätkapitalismus <strong>und</strong> kommt zu dem Ergebnis, daß unter den<br />

Bedingungen des Zur-unmittelbaren-ProduktivkraftWerdens der Wissenschaft ein wissenschaftlich-staatlichtechnischer<br />

Komplex sich bildet, der die Politik mehr als bloßen Überbau sein läßt. Es verändere sich dadurch<br />

der Charakter der gesellschaftlichen Konflikte.<br />

32 Marcuse mußte wie Bloch, Adorno, Horkheimer <strong>und</strong> viele andere in der Zeit des Nationalsozialismus in<br />

die USA emigrieren. Im Gegensatz zu den Vorgenannten blieb er dort nach dem Krieg <strong>und</strong> lehrte in Kalifornien.<br />

33 Marcuses Verständnis des „Eros“ bleibt allerdings durch sein Haften an rein freudianischtriebtheoretischen<br />

Überlegungen ein reduziertes.<br />

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