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Marxismus und Anthroposophie - Institut für soziale Gegenwartsfragen

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57<br />

Bewußtsein als Produkt, Funktion<br />

<strong>und</strong> Eigenschaft der Materie:<br />

Der marxistische Begriff des Bewußtseins<br />

Nur aus Unwissenheit über den eigenen Körperbau, durch Fehldeutung von Traumerlebnissen,<br />

seien die Menschen einst auf die Illusion verfallen, „ihr Denken <strong>und</strong> Empfinden<br />

sei nicht eine Funktion ihres Körpers, sondern einer besonderen, in diesem Körper wohnenden<br />

<strong>und</strong> ihn beim Tode verlas-senden Seele“, schrieb Engels, der zugleich die persönliche<br />

Unsterblichkeit eine „langweilige Einbildung“ nennt, entstanden aus der „Verlegenheit,<br />

was mit der einmal angenommenen Seele nach dem Tode des Körpers anzufangen<br />

[...]“ 1 Das darf man nicht mißverstehen: geleugnet wird hier ein körperunabhängiges<br />

Seelisches, nicht Psychisches <strong>und</strong> Bewußtsein überhaupt. Das Bewußtsein<br />

soll zwar, nach marxistischer Auffassung, Produkt, Funktion, Eigenschaft einer auf<br />

besondere Art organisierten Materie — des Gehirns - sein, ohne die es kein Nu existieren<br />

könnte. Im Rahmen dieser seiner materiellen Bedingtheit anerkennt man aber durchaus<br />

eine besondere Qualität <strong>und</strong> relative Eigengesetzlichkeit des Bewußtseins, das als<br />

höchste Form der psychischen Widerspiegelung der objektiven Realität nicht auf sein<br />

materielles Substrat reduziert werden soll. Und zwar deshalb, weil es die Objekte in Form<br />

von durchaus nichtmateriellen Empfindungen, Wahrnehmungen, Vorstellungen <strong>und</strong> Begriffen<br />

reproduziert. 2<br />

Die Widerspiegelungsfähigkeit wird als Produkt der stammesgeschichtlichen Evolution<br />

betrachtet, das mit der Herausbildung des höheren Nervensystems gekoppelt ist. Es ist<br />

die materielle Struktur des menschlichen Hirns, mit ihren 15 Millionen Nervenzellen — alle<br />

miteinander <strong>und</strong> durch afferente <strong>und</strong> efferente Nervenbahnen mit den Sinnes- <strong>und</strong> Bewegungsorganen<br />

vernetzt — die es ermöglicht, daß aus der „Energie des äußeren Reizes<br />

[...] eine Bewußtseinstatsache“ wird. 3 Das Bewußtsein ist gewissermaßen ein „innerer<br />

Zustand der Materie“ 4 , insbesondere eine Funktion der Großhirnrinde, während die<br />

stammesgeschichtlich früher entstandenen subkortikalen Bereiche als Organ der weitervererbten<br />

instinktiven Verhaltensweisen aufzufassen sind.<br />

Zwischen Bewußtseinsleistungen bzw. Sinnen als Erlebnisfeldern <strong>und</strong> physischen Organen,<br />

an die sie geb<strong>und</strong>en sind, wird zwar keine platte Identität behauptet, aber dennoch<br />

oft unzureichend differenziert, etwa wenn formuliert wird: „Die äußeren Sinnesorgane<br />

sind der Gesichtssinn, der Geruchssinn <strong>und</strong> der Tastsinn.“ 5 Ja gelegentlich definiert<br />

man das Denken schlicht als die „höchste Stufe der bedingt-reflektorischen Widerspiegelungstätigkeit“.<br />

6 Erscheint in solchen Sätzen das Bewußtsein als ,im Gr<strong>und</strong> überflüssige<br />

Zutat zu einem bewußtlos ebensogut funktionierenden Nervensystem 7 <strong>und</strong> wird damit<br />

obsolet, worin sein entscheidender evolutionsgeschichtlicher Selektionsvorteil eigentlich<br />

bestehen soll, so steht dem auch wieder Lenins Diktum entgegen, das Bewußtsein widerspiegele<br />

die Welt nicht nur, sondern schaffe sie auch. 8 Man versteht, daß einem Tatmenschen<br />

wie Lenin dies deutlich sein mußte, fragt sich aber, wie der Satz mit der These<br />

von der reflektorischen Tätigkeit zu verbinden ist, denn ein Reflex ist per definitionem ein<br />

determinierter Vorgang, kein schöpferischer Beginn, sondern eine Antwort des Organismus<br />

auf den Reiz, die nicht unterlassen werden kann.<br />

Die These von der Hirnbedingtheit des Bewußtseins hält man <strong>für</strong> empirisch gesichert<br />

durch zahlreiche Fakten aus Neurochirurgie, Anästhesie <strong>und</strong> Psychopharmakologie<br />

(Ausschaltungsexperimente, Bewußtseinsveränderungen durch Drogen, Narkose), lehnt<br />

allerdings eine simple Lokalisationstheone im Sinne der Deutung bestimmter Hirnpartien<br />

als ,Sitz“ von Bewußtseinsfähigkeiten ab. Den Berichten von Personen, die bereits klinisch<br />

tot waren <strong>und</strong> reanimiert wurden, erkennt man hinsichtlich der Frage nach einem<br />

nachtodlichen Leben <strong>und</strong> einer leibunabhängigen Seele keine positive Aussagekraft zu:<br />

diese Erlebnisse werden ebenfalls vom Hirn her zu erklären versucht, das ja in der Tat<br />

erst beim zentralen Tod zerstört ist.<br />

1<br />

MEW 21,S. 274f.<br />

2<br />

Vgl. a.i.f. Konstantinow, S. 95ff.; s. a. LW 14,S. 226.<br />

3<br />

LW 14, S. 43.<br />

4<br />

ibd., S. 49.<br />

5<br />

Konstantinow, S. 99.<br />

6<br />

Klaus/Buhr, S. 259.<br />

7<br />

Strauß 1956, S. 167.<br />

8<br />

LW 38,S. 203f.

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