Marxismus und Anthroposophie - Institut für soziale Gegenwartsfragen
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künstlerisch-schöpferischem Wesen z.B. würde das nicht gerecht. Der Begriff „basieren“<br />
bedeutet in bezug auf das letztere nur, daß man betont, es sei die Arbeit, die die Hand so<br />
vervollkommnet habe, daß sie schließlich die Fähigkeit erlangte, ,Paganinische Musik<br />
<strong>und</strong> Thorvaldsensche Statuen‘ hervorzubringen. 5<br />
Quelle der Entwicklung der Erkenntnis sind also die praktischen gesellschaftlichen<br />
Bedürfnisse <strong>und</strong> Notwendigkeiten. Die so sich ergebende sozialökonomische Abhängigkeit<br />
des Erkenntnisprozesses, sein historischer Charakter, schließt indes <strong>für</strong> den <strong>Marxismus</strong><br />
eine gewisse Eigengesetzlichkeit, eine relative Selbständigkeit nicht aus. Dadurch<br />
erklärt man sich auch, daß Erkenntnis der Praxis vorauseilen, zukünftige Entwicklungen<br />
vorweg-nehmen, ja im Zuge der heutigen Verwissenschaftlichung der Produktion industrielle<br />
Praxis in gewissem Sinne sogar erst möglich machen kann. Andererseits verliere<br />
ein Denken, das sich gegenüber der Praxis übermäßig verselbständigt, seinen Realitätsbezug<br />
<strong>und</strong> seine Objektivität.<br />
Ein zweiter Schlüsselbegriff der marxistischen Erkenntnistheorie ist der Begriff der<br />
Widerspiegelung. Das Wissen soll die objektive Realität widerspiegeln, das „im Menschenkopf<br />
umgesetzte <strong>und</strong> übersetzte Materielle“ sein. 6 Die Metapher von der Widerspiegelung<br />
bedeutet nicht, daß das Wissen als tote Kopie, passiver Abklatsch oder mechanischer<br />
Abdruck der Dinge aufgefaßt wird, sie soll nur den objektiven Inhalt des Wissens<br />
hervorheben. Widerspiegelung wird dialektisch gefaßt, als Prozeß, als schöpferische,<br />
zielgerichtete Tätigkeit des Subjekts, das mit seinen Wahrnehmungsmustern <strong>und</strong> Denkformen<br />
an die Welt herantritt: Erkenntnis ist ,Aneignung der Wirklichkeit durch den denkenden<br />
Kopf‘. 7 Bei letztinstanzlicher Determination durch das Objekt geht das Subjekt in<br />
seinem physiologisch-biologisch <strong>und</strong> sozialhistorisch doppelbestimmten Widerspiegelungsprozeß<br />
relativ frei mit den ideellen Abbildern des Objekts <strong>und</strong> seiner einzelnen Seiten<br />
um, wobei die Ziele <strong>und</strong> Wünsche des Menschen, das jeweilige erkenntnisleitende<br />
Interesse, eine Rolle spielen. Sogar in bezug auf mögliche Dinge hält man den Terminus<br />
Widerspiegelung <strong>für</strong> anwendbar.<br />
„In dem Augenblick, wo wir die Dinge, je nach den Eigenschaften, die wir in ihnen<br />
wahrnehmen, zu unserem eigenen Gebrauch anwenden, in demselben Augenblick unterwerfen<br />
wir unsere Sinneswahrnehmungen einer unfehlbaren Probe auf ihre Richtigkeit<br />
oder Unrichtigkeit“, schreibt Engels: „Waren diese Wahrnehmungen unrichtig, dann muß<br />
auch unser Urteil über die Verwendbarkeit eines solchen Dings unrichtig sein, <strong>und</strong> unser<br />
Versuch, es zu verwenden, muß fehlschlagen. Erreichen wir aber unseren Zweck, finden<br />
wir, daß das Ding unseren Vorstellungen von ihm entspricht, daß es das leistet, wozu wir<br />
es anwandten, dann ist dies positiver Beweis da<strong>für</strong>, daß innerhalb dieser Grenzen unsere<br />
Wahrnehmungen von dem Ding <strong>und</strong> seinen Eigenschaften mit der außer uns bestehenden<br />
Wirklichkeit stimmen [...]“ 8 Man müsse die Erkenntnis als Abbild auffassen, denn<br />
„Zeichen <strong>und</strong> Symbole“ seien „auch in bezug auf eingebildete Gegenstände durchaus<br />
möglich“, sagt Lenin zur Rechtfertigung der Widerspiegelungstheorie. 9<br />
Eine relative Berechtigung wird dem Begriff des Zeichens aber im Zusammenhang mit<br />
der Sprache, der Existenzform des Wissens, zuerkannt. Zeichen, auch nichtsprachliche<br />
wie Verkehrszeichen, Noten etc., verweisen auf Gegenstände, Ereignisse, Handlungen, -<br />
darin liegt das, was wir die Bedeutung der Zeichen nennen.<br />
Entscheidende Bedeutung in der Erkenntnistheorie kommt dem Wahrheitsproblem zu.<br />
Wie kommt Wahrheit zustande <strong>und</strong> was ist ihr Kriterium? Der <strong>Marxismus</strong> akzeptiert die<br />
Adäquationsthese, nach der wahres Wissen durch seine Übereinstimmung mit der Sache,<br />
die erkannt werden soll, bestimmt ist, fordert aber zugleich, diese Definition zu präzisieren:<br />
Objektive Wahrheit muß ein Wissen sein, dessen Inhalt weder vom Menschen<br />
noch von der Menschheit abhängt 10 - was vom Menschen abhängt, ist nur die Form:<br />
Wahrheit ist eine Eigenschaft von Aussagen. Sie ist keine Frage der „Denkökonomie“,<br />
wie Ernst Mach meinte. Die Wahrheitsfrage ist mehr als die Frage der angewandten Erkenntnismethoden,<br />
sie ist auch nicht mit dem Hinweis auf den Nutzen abzutun. Zwar ist<br />
das Streben nach Vereinfachung legitim, aber das Denken ist letztlich nur dann ökonomisch,<br />
„wenn es die objektive Wahrheit richtig widerspiegelt“. 11 - Die deutliche Abgrenzung,<br />
die Lenin damit von jeder utilitaristischen, positivistischen oder pragmatistischen<br />
96<br />
5<br />
MEW 20, S. 446. S. a. Erg.bd. 1, S. 517.<br />
6<br />
MEW 23, S. 27.<br />
7<br />
Gr<strong>und</strong>risse, S. 22.<br />
8<br />
MEW 19, S. 530.<br />
9<br />
LW 14, S. 233.<br />
10<br />
ibd., S. 116.<br />
11<br />
ibd., S. 166.