Marxismus und Anthroposophie - Institut für soziale Gegenwartsfragen
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sammenhangs. Allein dieses Urteil ist evident.“ 19 So wie der materielle Zusammenhang<br />
nur ein besonderer Fall des Zusammenhangs überhaupt, so ist auch die (sinnlich wahrnehmbare)<br />
Bewegung der Materie nur ein besonderer Fall der Bewegung: Auch Gemütsbewegungen,<br />
Denkbewegungen, Willensimpulse usw. sind Bewegungen. Der Satz, die<br />
Bewegung als solche sei nichts als die Gesamtheit aller sinnlich wahrnehmbaren Bewegungsformen<br />
(wieso nur dieser?) 20 , ist aber auch deshalb schief, weil die Sinnesorgane<br />
streng genommen immer nur Augenblicksbilder von Bewegungsresultaten liefern, die sich<br />
in jeweiligen Lagen von Gegenständen darstellen. Diese „Eindrücke“ müssen erst zum<br />
Bewegungsfluß im inneren Mitvollzug der Bewegung zusammengeschaut werden. Die<br />
Bewegung entschlüpft uns, wenn wir sie an isolierten Punkten fixieren wollen, es entsteht<br />
dann ein Widerspruch, <strong>und</strong> in diesem Widerspruch liegt auch die Quelle der Zeno‘schen<br />
Antinomien der Bewegung. Das Denken selbst wird zunächst nicht unmittelbar bewußt,<br />
sondern im Hinblicken auf die bereits vergangene Begriffsbildung. Erst allmählich können<br />
wir lernen, der Denkbewegung im Denkvollzug selber inne zu sein. 21<br />
Steiner, auch als Schöpfer der neuen Bewegungskunst Eurythmie, faßt besonders die<br />
Gebärdenhaftigkeit der Bewegung ins Auge. Äußere Bewegungen haben einen Ausdrucksgehalt,<br />
der auf innere Regungen, Kräfte <strong>und</strong> Verfassung des sich bewegenden<br />
Wesens deutet. Was kann nicht allein der Gang: schlendern, schreiten, stolzieren usw.,<br />
ausdrücken! Steiner will nicht Kräfte auf materielle Bewegungen, sondern umgekehrt<br />
Bewegungen auf Kräfte <strong>und</strong> diese wiederum auf eine in ihnen sich manifestierende Wesenhaftigkeit<br />
zurückführen. Kraft, Energie wirkt <strong>für</strong> ihn nicht auf Materie, Materie existiert<br />
nicht anders als in der Anordnung der Wirkungen bestimmter Kraftströmungen. 22<br />
Man kann sich leicht klarmachen, daß bereits die Schwerkraft, die elektromagnetischen<br />
Kräfte oder die Kernkraft nur in ihren Wirkungen sinnlich wahrnehmbar sind. Gegenüber<br />
diesen Wirkungen ist heute die Phänomenblindheit überw<strong>und</strong>en, die gegenüber<br />
der besonderen Gestaltqualität der organischen Formen im Vergleich zu den anorganischen<br />
noch herrscht; diese will man nicht als Wirkung spezifischer Kräfte auffassen. E.<br />
M. Kranich hat darauf hingewiesen, daß der Gestalt- <strong>und</strong> Formensinn nicht nur in der<br />
Morphologie, sondern auch in der Genetik, Abstammungslehre eine unverzichtbare,<br />
wenn auch meist nicht bewußtwerdende Rolle spielt. 23 Die Kräfte, die diese Gestaltbildung<br />
bewirken, nennt Steiner „ätherische Bildekräfte“. Sie sind materiell ungreifbar, existieren<br />
aber übersinnlich-real. Im Gegensatz zu der „Lebenskraft“ des Vitalismus, von dem Steiner<br />
sich abgrenzt, sind sie erfahrbar, keine spekulativen Konstrukte. Die Mischung, die<br />
die physikalischen <strong>und</strong> chemischen Stoffe <strong>und</strong> Kräfte im Organismus, speziell dem<br />
menschlichen, eingehen, ist vom Standpunkt der physikalisch-chemischen Gesetzmäßigkeiten<br />
die allerunwahrscheinlichste: Die bloß materiellen Wirkungen bilden die organischen<br />
Formen gerade nicht, sondern lösen sie auf, wie sich am verwesenden Leichnam<br />
zeigt. Es ist die Lebenskräfteorganisation, die diese Auflösungstendenz beständig überwindet<br />
<strong>und</strong> deren Wirkungsrichtung der der physischen Gesetze entgegengesetzt ist.<br />
Eine Ahnung davon lebt in dem Apercu, die Physik habe zu zeigen, warum die Äpfel von<br />
den Bäumen fallen, die Biologie, warum sie hinaufkommen. Steiner nennt die Lebenskräfteorganisation<br />
auch den Ätherleib, der als „Architekt“ des physischen Leibes fungiert. 24<br />
Der dialektische Materialismus erklärt, die höhere Materiebewegungsform nicht auf<br />
die niedere reduzieren zu wollen, <strong>für</strong> Steiner liegt eine solche Reduktion, etwa in bezug<br />
auf das Lebendige, jedoch bereits im Begriff „Materiebewegungsform“ beschlossen.<br />
Nicht, daß er irgendetwas an der These von der Wirkung der niederen in der höheren<br />
Bewegungsform auszusetzen hätte. Daß das Tier wächst wie die Pflanze, der Mensch<br />
durch seinen physischen Leib eben auch den physikalischen Gesetzmäßigkeiten unterliegt,<br />
ist vollkommen unstrittig. Steiner geht es jedoch darum, daß Höhere der höheren<br />
Form nicht nur verbal anzuerkennen, sondern ein Organ <strong>für</strong> seine Eigenart zu entwickeln<br />
um sie wirklich erfahrbar zu machen. Ein Stein befindet sich normalerweise in Ruhe, wird<br />
nur durch Einwirkung äußerer Kräfte bewegt, eine Pflanze vollzieht Wachstumsbewegungen,<br />
die einer bestimmten inneren Gesetzmäßigkeit folgen, das Tier wird durch Trieb,<br />
Begierde <strong>und</strong> Instinkt bewegt, während der Mensch mit zunehmender Herrschaft über<br />
19<br />
Witzenmann 1978, S. 30. S. a. 28f.<br />
20<br />
Engels, MEW 20, S. 503.<br />
21<br />
Vgl. Witzenmann 1977, S. 169ff., Kühlewind 1980, 9ff.<br />
22<br />
Nach Kugler 1978, S. 26.<br />
23<br />
Kranich 1979, S. 14.<br />
24<br />
Etwa GA 13, S. 45; GA 9, S. 30. Man darf hier weder an Ätherhypothesen der Physik denken noch sich<br />
an dem bildhaften Ausdruck ,,Leib“ stoßen. Zum Gesamtkomplex vgl. Bockemühl (Hg.) 1977 <strong>und</strong> Marti 1977.<br />
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