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Marxismus und Anthroposophie - Institut für soziale Gegenwartsfragen

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Das Unmittelbar-Gegebene schließt alles ein, was überhaupt am Erlebnishorizont auftauchen<br />

kann, von den Empfindungen über die Wahrnehmungen, Gefühle, Willensregungen,<br />

Traumgebilde, Phantasien, Vorstellungen zu den Begriffen <strong>und</strong> Ideen. Es ist nach<br />

Steiner methodisch unzulässig, an den Beginn der Erkenntnistheorie die Voraussetzung<br />

zu stellen, dies alles sei nicht mehr als der Bewußtseinsinhalt des Subjekts, das keinen<br />

Absprung ins Transsubjektive habe, weil das Bewußtsein sich nicht selbst überspringen<br />

könne. Für Steiner „liegt die Sache ganz anders. Für uns sind das Bewußtsein sowohl<br />

wie die ,Ich‘-Vorstellung zunächst nur Teile des Unmittelbar-Gegebenen <strong>und</strong> welches<br />

Verhältnis die ersteren zu den letzteren haben, ist erst ein Ergebnis der Erkenntnis. Nicht<br />

vom Bewußtsein aus wollen wir das Erkennen bestimmen, sondern umgekehrt: vom Erkennen<br />

aus das Bewußtsein <strong>und</strong> das Verhältnis von Objektivität <strong>und</strong> Subjektivität.“ 6<br />

Wie soll man auch vor aller Erkenntnis wissen, was am Gegebenen objektiv <strong>und</strong> was<br />

subjektiv ist? Das Raisonnement der Verfechter des erkenntnistheoretischen Paradoxons,<br />

die einfach voraussetzen, das Gegebene sei ein Geflecht subjektiver Sinnesdaten<br />

ohne Ausblick auf eine objektive Welt, ist demnach fehlerhaft.<br />

Wie aber ist nun Erkenntnis möglich, wie entsteht sie? Dadurch, daß man innerhalb<br />

des Gegebenen etwas entdecken kann, was nur insofern gegeben ist, als es im Erkenntnisakt<br />

erst hervorgebracht wird. Wohlgemerkt, es muß sich dabei um ein selber unmittelbar<br />

Gegebenes, nicht bloß Erschlossenes handeln. Dieses Etwas sind nun die Begriffe<br />

<strong>und</strong> Ideen; von ihnen wissen wir unmittelbar, daß sie nicht ohne unser Zutun in den Bereich<br />

des Unmittelbar-Gegebenen eintreten: wir müssen sie denken. Im Denken halten<br />

wir das Weltgeschehen gewissermaßen an einem Zipfel, wo wir selbst mittun müssen,<br />

damit etwas zustandekommt. Die Rätselhaftigkeit des übrigen Inhalts des Gegebenen<br />

liegt gerade darin, daß wir ihn bereits fertig vorfinden, uns durch ihn immer schon vor<br />

vollendete Tatsachen gestellt finden. Das Denken dagegen ist durchschaubar, weil wir es<br />

selbst hervorbringen; wir brauchen nach seinen Bestimmungen nicht zu fragen, weil wir<br />

sie ihm selbst erteilen. Das Denken brauchen wir bloß zu beobachten, um mit seiner<br />

Erscheinung zugleich sein Wesen gegeben zu haben. Die Wissenschaft von den Denkformen<br />

muß deshalb eine rein beschreibende, keine beweisende sein, denn jeder Beweis<br />

setzt Logik <strong>und</strong> Denken voraus. 7<br />

„Wenn wir aber außer dem Denken etwas erkennen wollen, so können wir das nur mit<br />

Hilfe des Denkens, d.h. das Denken muß an ein Gegebenes herantreten <strong>und</strong> es aus einer<br />

chaotischen Verbindung in eine systematische mit dem Weltbilde bringen.“ 8 Das geschieht,<br />

indem die Elemente des Gegebenen nach Maßgabe der vom Denken produzierten<br />

Formen aufeinander bezogen werden <strong>und</strong> bestimmt wird, was sich aus dieser Beziehung<br />

ergibt: das vorher unkonturierte Gegebene erhält dadurch erst Kontur. Indem wir<br />

uns dies bewußt gemacht haben, haben wir nichts anderes getan, als das Wesen der<br />

Erkenntnis aus der Beobachtung des Erkenntnisvorgangs selbst zu bestimmen. Aus dem<br />

unmittelbar vor der Erkenntnis gelegenen Gebiet des Unmittelbar-Gegebenen stieg etwas<br />

vor unserer Beobachtung auf, was über sich selbst <strong>und</strong> das übrige Gegebene das Licht<br />

der Erkenntnis verbreitete. Der Erkenntnisakt hat sich uns enthüllt als die Synthese des<br />

gegebenen Wahrnehmungsinhalts <strong>und</strong> des produzierten Begriffsinhalts, als die Synthese<br />

zweier Teile des Weltinhalts, die zunächst künstlich auseinandergerissen wurden, durch<br />

die denkende Weltbetrachtung.<br />

Daß wir nur mithilfe der vom Denken produzierten Formen erkennen, bedeutet nicht,<br />

daß wir, wie der Kantianismus annahm, ins Gefängnis unserer Subjektivität eingemauert<br />

sind <strong>und</strong> uns über die Welt allenfalls indirekt unterrichten können. Indem das Denken<br />

zwei Teile des Gegebenen aufeinander bezieht, hat es von sich aus gar nichts über sie<br />

bestimmt. Das Denken produziert z. B. die Gedankenform der Ursächlichkeit, muß aber<br />

Ursachen <strong>und</strong> Wirkungen in der Welt finden. Das Erkenntnisexperiment der Vereinigung<br />

dieser Gedankenform mit zwei Elementen des Gegebenen gelingt nur, wenn diese Elemente<br />

aufgr<strong>und</strong> ihrer inhaltlichen Bedeutung den Denkversuch annehmen, d.h. sich als<br />

Ursache <strong>und</strong> Wirkung darstellen. Erst der gelungene Denkversuch kann eine Erkenntnis<br />

genannt werden. „Das Denken sagt nichts a priori über das Gegebene aus, aber es stellt<br />

Mit diesen Bemerkungen soll auf eine mögliche Richtung gedeutet werden, in der das Verhältnis von Erkenntnistheorie<br />

<strong>und</strong> Sinneslehre bearbeitet werden konnte. Einen sehr wichtigen Ansatz <strong>für</strong> die Weiterentwicklung<br />

der anthroposophischen Erkenntniswissenschaft, der hier aber nicht weiter verfolgt werden kann, liefert H.<br />

Witzenmann mit seiner „Strukturphänomenologie“ (1983).<br />

6 GA 3, S. 141.<br />

104<br />

7 Vgl. ibd. 143-147; GA 4, S. 49f.<br />

8 GA 3, 147.

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