Marxismus und Anthroposophie - Institut für soziale Gegenwartsfragen
Marxismus und Anthroposophie - Institut für soziale Gegenwartsfragen
Marxismus und Anthroposophie - Institut für soziale Gegenwartsfragen
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
Rudolf Steiners Sozialimpuls <strong>und</strong> der <strong>Marxismus</strong> in<br />
seinen verschiedenen Strömungen<br />
Interesse des Menschen am anderen Menschen, f<strong>und</strong>iert durch wirkliche Menschenerkenntnis,<br />
dies ist <strong>für</strong> Steiner der Kern des Sozialen. Den Zeitgenossen fällt es schwerer<br />
als den Menschen früherer Zeiten, mitmenschliches Interesse zu entwickeln. Denn wir<br />
sind eben um ein Vielfaches individueller geworden als unsere Vorfahren es waren. Dadurch<br />
ist die Vereinzelung, sind die Beziehungsprobleme stärker als je. Auf diesen neuzeitlichen<br />
Individualismus versucht das <strong>soziale</strong> Denken Antworten zu finden, die sehr<br />
unterschiedlich ausfallen. Rousseau, Marx <strong>und</strong> andere hoffen, daß der Mensch dereinst<br />
wieder ein völlig <strong>soziale</strong>s Wesen sein <strong>und</strong> der Egoismus mit der bestehenden Gesellschaftsverfassung<br />
überw<strong>und</strong>en werden wird. Andere setzten - wie Adam Smith - auf den<br />
Egoismus als Schmiermittel der gesellschaftlichen Dynamik: Profit als Leistungsanreiz <strong>für</strong><br />
das Ganze. Rudolf Steiner ist weit entfernt von solchen schematischen Ansichten, die in<br />
der Praxis zu antihumanen Verhältnissen führen müssen <strong>und</strong> schon geführt haben. Für<br />
ihn bildet das Soziale <strong>und</strong> das Anti<strong>soziale</strong> im Menschen jeweils den einen Ausschlag<br />
einer Pendelschwingung: ohne das Anti<strong>soziale</strong> kein individuelles Eigensein, gerade weil<br />
das so ist, bedarf es aber immer wieder des Ausgleichs durch eine entsprechende <strong>soziale</strong><br />
Struktur, die das Ausleben des Anti<strong>soziale</strong>n begrenzt.<br />
„Leben, einzeln <strong>und</strong> frei wie ein Baum <strong>und</strong> gemeinsam wie ein Wald ist unsere Sehnsucht.“<br />
Diese Worte des türkischen Dichters Nazim Hikmet könnte man durchaus als<br />
Leitspruch über Steiners Suchen nach einer Gesellschaftsform der Freiheit, Mündigkeit<br />
<strong>und</strong> Solidarität stellen.<br />
Für die heutige Zeit - im Gegensatz zum berechtigten Kollektivismus älterer Kulturen,<br />
die den einzelnen im Interesse des Lebens der Gemeinschaft aufopferten (siehe Steiners<br />
„Soziologisches Gr<strong>und</strong>gesetz“, [1898]) - sind Staat <strong>und</strong> Gesellschaft so einzurichten, daß<br />
sie den einzelnen nicht bevorm<strong>und</strong>en. In diesem Sinne ist Steiner durchaus individualistischer<br />
Anarchist oder besser gesagt Nearchist, jemand, der ein Minimum an Herrschaft<br />
anstrebt <strong>und</strong> deshalb den Staat auf einen Minimalstaat, einen reinen Rechtsstaat beschränkt<br />
sehen will. Auf der anderen Seite ist er aber auch ein radikaler Sozialist, der <strong>für</strong><br />
das Wirtschaftsleben solidarische Zusammenarbeit <strong>und</strong> gegenseitige Hilfe, anstelle des<br />
Profit- <strong>und</strong> Konkurrenzprinzips, als allein heilsam ansieht.<br />
1905/06 formuliert Steiner in einer Aufsatzreihe „Geisteswissenschaft <strong>und</strong> <strong>soziale</strong><br />
Frage“ seine Alternative zum Zielkonflikt in der Arbeiterbewegung zwischen „Sozialreform<br />
<strong>und</strong> Revolution“: Weder Anpassung an das bestehende System noch Klassenkampf <strong>und</strong><br />
gewaltsamer Umsturz lösen die <strong>soziale</strong> Frage. Mit der Ausbeutung kann man sich niemals<br />
abfinden. Aber jeder Menschheitsfortschritt kann „nicht anders herbeigeführt werden,<br />
als wenn Mensch nach Mensch erobert wird. Nur wenn die Menschen wollen,<br />
schreitet die Welt vorwärts.“ 58 Damit ist die „strategische“ Leitlinie radikaler Gewaltfreiheit<br />
umrissen: Man kann niemanden zur Freiheit zwingen.<br />
Der Ausbeutungsbegriff, den er in diesen Aufsätzen entwickelt, ist differenzierter als<br />
der Marxsche: Ausbeutung ist überall da vorhanden, wo ich Güter zu billig, auf Kosten<br />
des Erzeugers zu erwerben trachte, während korrekterweise der richtige Preis eines Guts<br />
die Erzeuger <strong>und</strong> ihre Familien solange sicherstellen muß, bis ein neues Gut oder eine<br />
neue Dienstleistung derselben Art entstanden ist, die nun wiederum verkauft werden<br />
kann. Ein radikales Neudurchdenken der Lohnfrage führt zu dem Ergebnis, daß die heutigen<br />
Formen der Entlohnung im Gr<strong>und</strong>e die Mentalität eines Selbstversorgers ansprechen,<br />
den es doch infolge der modernen Arbeitsteilung nicht mehr gibt: Objektiv arbeitet<br />
jeder <strong>für</strong> den anderen; die Arbeitsmotivation dagegen ist noch weitgehend eine egoistische.<br />
Dieser Egoismus kann höchstens vorübergehend zum Wohl, nie aber längerfristig<br />
zum Heil einer Gemeinschaft arbeitender Menschen dienen. Dieses wird vielmehr durch<br />
bewußte Gemeinschaftlichkeit gefördert, die die Früchte der Arbeit dem je anderen zukommen<br />
läßt <strong>und</strong> bei der jeder durch den je anderen unterhalten wird. Soziales Hauptgesetz<br />
nennt Steiner diesen notwendigen Zusammenhang von Heil <strong>und</strong> Gemeinschaftlichkeit.<br />
Dieses Gesetz soll kein allgemeines moralisches Postulat bleiben, sondern sich in<br />
vielfältiger Weise in Einrichtungen des <strong>soziale</strong>n Organismus auswirken, die verhindern,<br />
daß der einzelne die Früchte seiner Arbeit <strong>für</strong> sich einheimst <strong>und</strong> auf Kosten der anderen<br />
zu leben versucht.<br />
Unter diesem Gesichtspunkt der Trennung von Arbeit <strong>und</strong> Einkommen stehen vielfäl-<br />
224<br />
58 Geisteswissenschaft <strong>und</strong> <strong>soziale</strong> Frage, in: Lucifer-Gnosis. GA 34, Dornach 1987, S. 221., S. 221.