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Marxismus und Anthroposophie - Institut für soziale Gegenwartsfragen

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seinsgeschichtliches Symptom <strong>für</strong> den Verlust von Gotteserfahrung. Die Frage ist die<br />

nach einem Weg der Berührung <strong>und</strong> Begegnung des geschichtlich autonom gewordenen<br />

Subjekts mit dem Göttlichen. Der Gedanke einer Schöpfung nimmt dem Menschen dann<br />

nichts von seiner Selbstbestimmung, wenn man wie Steiner davon ausgeht, daß auf diese<br />

Selbstbestimmung die Schöpfung gerade angelegt ist: „Lehrt die Religion, daß Gott<br />

den Menschen nach seinem Ebenbilde geschaffen hat, so lehrt unsere Erkenntnistheorie,<br />

daß Gott die Schöpfung überhaupt nur bis zu einem bestimmten Punkte geführt hat. Da<br />

hat er den Menschen entstehen lassen, <strong>und</strong> dieser stellt sich, indem er sich selbst erkennt<br />

<strong>und</strong> um sich blickt, die Aufgabe, fortzuwirken <strong>und</strong> zu vollenden, was die Urkraft<br />

begonnen hat.“ 15<br />

Die wahre Theodizee liegt <strong>für</strong> Steiner in der Einsicht, daß die Gottheit aus unendlicher<br />

All-Liebe die All-Macht preisgegeben hat: „Der Weltengr<strong>und</strong> hat sich in die Welt vollständig<br />

ausgegossen; er hat sich nicht von der Welt zurückgezogen, um sie von außen zu<br />

lenken; er hat sich ihr nicht vorenthalten. Die höchste Form, in der er innerhalb der Wirklichkeit<br />

des gewöhnlichen Lebens auftritt, ist das Denken <strong>und</strong> mit demselben auch die<br />

menschliche Persönlichkeit. Hat somit der Weltengr<strong>und</strong> Ziele, so sind sie identisch mit<br />

den Zielen, die sich der Mensch setzt, indem er sich darlebt. Nicht indem der Mensch<br />

irgendwelchen Geboten des Weltenlenkers nachforscht, handelt er nach dessen Absichten,<br />

sondern indem er nach seinen eigenen Einsichten handelt. Denn in ihnen lebt sich<br />

jener Weltenlenker dar.“ 16<br />

Solche Ansichten bringen Steiner in Gegensatz zu jeder Art von Weltanschauung, die<br />

noch aus dem Gefühl einer schlechthinnigen Abhängigkeit des Menschen von einer<br />

fremden Macht lebt <strong>und</strong> über die schon Hegel gegenüber Schleiermacher spottete, wenn<br />

dies das Wesen der Religion sei, so sei ein H<strong>und</strong> der beste Christ. Ob man diese fremde<br />

Instanz, die als ewig, allmächtig, unendlich <strong>und</strong> allumfassend erlebt wird, als Gott oder<br />

Materie denkt, hat <strong>für</strong> die Geisteshaltung solchen Abhängigkeitsbewußtseins eine geringere<br />

Bedeutung, als man gewöhnlich annimmt.<br />

Steiner nähert sich wie Marx dem Materiebegriff mit einer Analyse der Widersprüche<br />

des Atomismus. In dem Jugendaufsatz „Einzig mögliche Kritik der atomistischen Begriffe“<br />

lesen wir: „Die Atome, müßten sie nicht eine der sinnlichen Erfahrung unzugängliche<br />

Existenz haben? Andererseits sollen die in der Atomenwelt vor sich gehenden Prozesse,<br />

speziell Bewegungen, nicht bloß Begriffliches sein. Der Begriff ist ja bloß Allgemeines,<br />

das ohne räumliches Dasein ist. Das Atom soll aber [...] in seinem Begriffe noch nicht<br />

erschöpft sein, sondern über denselben hinaus eine Form der Existenz im Raume haben.<br />

Damit ist in den Begriff des Atoms eine Eigenschaft aufgenommen, die ihn vernichtet. Er<br />

soll analog den Gegenständen der äußeren Wahrnehmung existieren, doch nicht wahrgenommen<br />

werden können. In seinem Begriffe ist die Anschaulichkeit zugleich bejaht<br />

<strong>und</strong> verneint.“ 17 Später wird Steiner diese Denkfigur als Paradoxon der unwahrnehmbaren<br />

Wahrnehmung 18 bezeichnen. Die Verstrickung in dieses Paradox ist unvermeidlich,<br />

solange man alle sinnlichen Qualitäten ins Subjekt hineinnimmt: die unwahrnehmbare<br />

<strong>und</strong> aufgr<strong>und</strong> der sinnlichen Qualitäten erschlossene Wahrnehmungsursache muß so<br />

zum qualitätslosen Unding ohne Eigenschaften verkommen. Aber auch der Schnitt, den<br />

die Lehre von den primaren <strong>und</strong> sek<strong>und</strong>ären Qualitäten durchs sinnlich Gegebene macht,<br />

um der Aporie zu entrinnen, ist willkürlich <strong>und</strong> kann nicht zum Ziele führen. Und zwar<br />

deshalb, weil „Ausdehnung, Größe, Lage, Bewegung, Kraft usw.“ als „‘mathematische<br />

<strong>und</strong> mechanische Qualitäten‘ [...] in Wirklichkeit mit dem übrigen Inhalt der Erfahrungswelt<br />

untrennbar verb<strong>und</strong>en“ 19 sind <strong>und</strong> nur durch den abstrahierenden Verstand von ihm<br />

abgetrennt werden können.<br />

Diese Feststellung bedeutet durchaus nicht, daß Steiner die Spezifik verschiedener<br />

Sinnesfelder leugnen wollte. Seine Sinneslehre differenziert vielmehr schärfer als jede<br />

vorhergehende sowohl zwischen den unterschiedlichen Sinnesleistungen als auch zwischen<br />

den Sinnen als Erlebnisfeldern <strong>und</strong> den Organen, an die sie geb<strong>und</strong>en sind. Nicht<br />

von einem Verhältnis der sinnlichen Außenwelt zu der menschlichen Subjektivität soll<br />

gesprochen werden, wie bei Kant <strong>und</strong> Locke. So gibt es unter den von Steiner aufgewiesenen<br />

12 Sinnen in der Tat solche, die uns mehr mit dem Objekt verbinden, andere wiederum,<br />

die uns mehr über die Zustände des eigenen Organismus unterrichten <strong>und</strong> damit<br />

Wahrnehmungen am Subjekt ermöglichen. Der Gesichtssinn verbindet z.B. mit der Ober-<br />

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15 GA 1,S. 118f.<br />

16 GA 2, 94f.<br />

17 In: Beiträge 63/1978, S. 7f.<br />

18 GA 4, S.118f.<br />

19 GA 1, S. 228.

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