Marxismus und Anthroposophie - Institut für soziale Gegenwartsfragen
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le Kraft nur die Umwandlung einer anderen Kraft ist. So erscheint die Kraft unerschaffen<br />
zu sein.<br />
- Die Gläubigen haben zum Himmel als zum Wohnort der Gottheit aufgeschaut. Nun<br />
zeigt die Astronomie ein grenzenloses Weltall mit lauter materiellen Körpern. Wo ist da<br />
Raum <strong>für</strong> einen Gott?<br />
- Man hat geglaubt, Gottvater habe den Menschen am sechsten Tag geschaffen, <strong>und</strong><br />
nun zeigt sich durch Darwin <strong>und</strong> Haeckel, daß sich die menschliche Gattung allmählich<br />
durch natürliche Zuchtwahl aus dem Tierreich entwickelt hat.<br />
- Die Menschen haben geglaubt, sie hätten eine unsterbliche Seele. Sie konnten nur<br />
deshalb auf diese „langweilige Einbildung“ (Engels) verfallen, weil sie keine Ahnung hatten<br />
von der Physiologie der höheren Nerventätigkeit.<br />
Solche Gedanken wirkten mit suggestiver Kraft, einer scheinbaren Evidenz, die Gegenargumente<br />
einfach wegwischte <strong>und</strong> die Versuche der Schöpfer des Entwicklungsgedankens<br />
- lange vor Darwin -, Evolution als Prozeß mit geistigen Triebfedern zu verstehen,<br />
systematisch ignorierte <strong>und</strong> verkannte. Während das Vermögen der Beobachtung<br />
äußerer Gegenständlichkeit durch Teleskop <strong>und</strong> Mikroskop sich vervielfältigte, hatte die<br />
Wahrnehmungsfähigkeit <strong>für</strong> Nichtmaterielles, beispielsweise seelische Qualitäten, im<br />
gleichen Maß abgenommen.<br />
Ja, sogar der Inhalt der Sinnesempfindungen löst sich durch die materialistische<br />
Denkart schließlich <strong>für</strong> viele in etwas rein Subjektives <strong>und</strong> Illusorisches auf. Man sucht die<br />
Wirklichkeit hinter den wahrgenommenen Qualitäten als unwahrnehmbare materielle<br />
Ursache der sinnlichen Wahrnehmung. Das wird scheinbar durch die Sinnesphysiologie<br />
bestätigt, die zeigt, daß die Empfindung erst mit Hilfe des Großhirns zustande kommt.<br />
Also ist der Empfindungsinhalt vorher nirgends da, so schließt man kurz. Ergo ist er nur<br />
im Bewußtsein vorhanden, ergo ist die wirkliche Außenwelt farblos, tonlos <strong>und</strong> so weiter.<br />
Das haben als erste der Philosoph Demokrit (ca. 460 - 380 v. Chr.) <strong>und</strong> sein Lehrer Leukipp<br />
vertreten. Draußen, so deren These, sind keine Farben, keine Gerüche, kein Warmes<br />
<strong>und</strong> kein Kaltes, draußen, da sind nur die Atome als die kleinsten Bausteine der<br />
Materie <strong>und</strong> der leere Raum, in dem sie sich bewegen. Die Natur erscheint da völlig entseelt,<br />
leblos, als eine Art Weltenmaschine. Die heutigen Vorstellungen über die Atome<br />
sind natürlich im einzelnen anders als die hypothetischen der ersten Atomisten, aber<br />
geblieben ist dieselbe Wissenschaftsgesinnung, die das Lebendige eigentlich gar nicht<br />
mehr wahrhaben will, die Modelle ausdenkt, die es zwar erlauben, Naturprozesse zu<br />
berechnen <strong>und</strong> zu beherrschen, die aber eigentlich keinen ersichtlichen Zusammenhang<br />
zu den Naturphänomenen in ihrer qualitativen Vielfalt <strong>und</strong> lebendigen Eigenart haben.<br />
Aus dieser Gesinnung ist heute die Technik hervorgegangen, die durch ihre Einseitigkeit<br />
<strong>und</strong> ihr mangelndes Verständnis des Lebendigen natürliche Umwelt <strong>und</strong> Leben bedroht.<br />
Tschernobyl liegt auf einem Weg, der bei Demokrit beginnt.<br />
Demokrit hat sich Karl Marx bereits in seiner Doktorarbeit vorgenommen, die er 1841<br />
in Jena abliefert, wo er in absentia promoviert. Er ist damals schon Atheist, aber noch<br />
kein Materialist. Er sieht die Widersprüche des Demokritschen Ansatzes erstaunlich klar:<br />
Im Atom sei der Tod der Natur ihre unsterbliche Substanz geworden, notiert er. Er kann<br />
sich nicht entschließen, den sinnlichen Glanz der Welt als Illusion zu betrachten <strong>und</strong> weiß<br />
sich hier einig mit einem anderen antiken Atomisten: Epikur. Als er später unter Feuerbachs<br />
Einfluß zum Materialisten wird, behält er die Abneigung gegen einen öden mechanistischen<br />
Materialismus bei. Feuerbach selbst, der Hymnen auf die Sinnlichkeit anstimmt,<br />
denkt da nicht anders. In Wirklichkeit handelt es sich allerdings hier um einen<br />
Mangel an erkenntnistheoretischer Reflexion: Man macht sich die Konsequenzen des<br />
materialistischen Ansatzes nicht richtig klar. Das gilt auch <strong>für</strong> Marx' Überzeugung, daß<br />
ein dialektischer Materialismus alle Schwächen seiner Vorgänger vermeide, die das Bewußtsein<br />
einfach auf sein materielles Substrat reduzierten <strong>und</strong> seiner gesellschaftlichen<br />
Dimension nicht gerecht wurden. Ein dialektischer Materialismus kann, so denken Marx<br />
<strong>und</strong> Engels, der Prozeßhaftigkeit der Welt <strong>und</strong> dem lebendigen Leben der Wirklichkeit,<br />
ihrer qualitativen Bestimmtheit <strong>und</strong> Vielgestaltigkeit gerecht werden. 9 In der Anerkennung<br />
einer übersubjektiven Bedeutung der Qualitäten, in denen die Wirklichkeit hervortritt, liegt<br />
9 Der Materiebegriff erscheint bei Marx gelegentlich wie mystisch überladen - daß in der „Heiligen Familie“<br />
im Zusammenhang mit dem Materie-Begriff Jakob Böhme zitiert wird, ist sicher kein Zufall. Jürgen Euler hat in<br />
seiner Diplomarbeit „Identität <strong>und</strong> marxistischer Materialismus“ (Frankfurt 1977) anhand bestimmter Passagen<br />
aus dem Frühwerk die These aufgestellt, der junge Marx müsse eine Art mystischen „Erleuchtungserlebnisses“<br />
gehabt haben. In der Tat könnte ein unzureichend verarbeiteter <strong>und</strong> deshalb von Marx mißdeuteter Einbruch in<br />
das Tagesbewußtsein vorliegen. Es würde dies erklären, wie Marx sich als ein in die wahren Triebkräfte der<br />
Geschichte „Eingeweihter“ fühlen kann.<br />
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