Marxismus und Anthroposophie - Institut für soziale Gegenwartsfragen
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oder Geistesverirrung abgetan wird. Denn dies brächte die marxistische Ideologiekritik<br />
um ihre Pointe, die darin besteht, daß die verzerrte Widerspiegelung der Wirklichkeit ihre<br />
wirklichen, das heißt hier ihre materiellen, Wurzeln haben muß. Wegen des rationellen<br />
Kerns, den die idealistischen Mystifikationen enthalten können, ging Lenin so weit zu<br />
sagen, der kluge Idealismus steht dem klugen Materialismus näher als ein dummer Materialismus.<br />
7 Idealismus bleibt <strong>für</strong> den <strong>Marxismus</strong> immer, sei es auch durch noch so feine<br />
Fäden, mit der Religion verb<strong>und</strong>en, die ihm als Form falschen Bewußtseins gilt, welche<br />
die noch unbeherrschten Natur- bzw. gesellschaftlichen Mächte in phantastischer Form<br />
widerspiegelt. Die Trennung von vorwiegend körperlicher <strong>und</strong> vorwiegend geistiger Arbeit<br />
ist es, die den Schein einer Selbständigkeit des Bewußtseins gegenüber der Materie<br />
ermöglichen <strong>und</strong> damit die Verabsolutisierung einzelner Seiten des Erkenntnisprozesses<br />
begünstigen soll, z.B. die Verwandlung des Begriffs in ein demiurgisches Subjekt.<br />
Den <strong>Marxismus</strong> interessiert an der Gr<strong>und</strong>frage der Philosophie vor allem ihre praktisch-<strong>soziale</strong><br />
Funktion. Der Materialismus erscheint als logische Gr<strong>und</strong>lage des Kommunismus,<br />
als die angemessene Weltanschauung <strong>für</strong> eine Klasse, „deren Eigentumslosigkeit<br />
[...] die Illusionslosigkeit ihrer Köpfe entsprechen“ muß 8 . Es hat strategische Konsequenzen<br />
<strong>für</strong> die Politik der Arbeiterbewegung, wenn man die Ursache der <strong>soziale</strong>n Übel<br />
nicht in subjektiven Unzulänglichkeiten der Menschen sieht - dann würde ja u. U. der<br />
Appell an das <strong>soziale</strong> Gewissen der Herrschenden etwas fruchten können -, sondern in<br />
materiellen gesellschaftlichen Verhältnissen: dann hilft nur die revolutionäre Beseitigung<br />
dieser Verhältnisse <strong>und</strong> ihre Ersetzung durch neue. 9<br />
Gegen die Engelssche Zwei-Lager-Vorstellung von der Philosophiegeschichte ist eingewandt<br />
worden, sie sei eine unzulässige Vereinfachung. Das trifft sicher <strong>für</strong> die Sichtweise<br />
der Stalin-Ära zu, wo nicht nur die Widersprüchlichkeit der Theorieentwicklung<br />
negiert wurde (Materialismus im Idealismus, Idealismus im Materialismus), sondern auch<br />
Idealismus schlicht mit Reaktion, Materialismus schlicht mit Fortschritt identifiziert wurde.<br />
Bei Engels selbst <strong>und</strong> auch in der heutigen marxistisch-leninistischen Philosophiegeschichtsschreibung<br />
gibt es da eine differenziertere Sicht der Dinge. Immerhin, noch ist die<br />
Neigung unverkennbar, in problematischer Weise nichtmaterialistische Traditionselemente<br />
dem „materialistischen Erbe“ zuzuschlagen. So ist schon <strong>für</strong> Engels der Gott-Natur-<br />
Gedanke Brunos, Spinozas, Goethes <strong>und</strong> Schellings der Versuch, den „Gegensatz zwischen<br />
Geist <strong>und</strong> Materie pantheistisch zu versöhnen“, ein Unternehmen, das letztlich<br />
dazu führt, daß auch die „idealistischen Systeme [...] sich mehr <strong>und</strong> mehr mit materialistischem<br />
Inhalt füllen“ 10 , im Gr<strong>und</strong>e also bereits eine Art verkappten Materialismus darstellen.<br />
Diese Deutung ist aber weder vom Denkeinsatz der Genannten noch vom objektiven<br />
Gehalt ihrer Lehren her gerechtfertigt <strong>und</strong> kann sich allenfalls - bei einigen - auf kirchliche<br />
Anathema berufen.<br />
Am Beginn der marxistischen Philosophie über die Materie steht die Marxsche Dissertation<br />
<strong>und</strong> mit ihr ein durchaus kritisches Verhältnis zum traditionellen Materialismus, das<br />
noch Entwicklungsmöglichkeiten nach verschiedenen Seiten hin offen läßt. Der junge<br />
Marx erkennt mit sicherem Gespür die Widersprüchlichkeit des atomistischen Weltbildes<br />
<strong>und</strong> analysiert sie scharfsinnig. Er konstatiert, wie alles lebendige Weben der Natur Leukipp<br />
<strong>und</strong> Demokrit gleichsam unter der Hand erstarrt, in der nur das Tote zurückbleibt:<br />
„Die Atome sind zwar die Substanz der Natur, aus der sich alles erhebt, in die sich alles<br />
auflöst; aber die stete Vernichtung der erscheinenden Welt kömmt zu keinem Resultat.<br />
Es bilden sich neue Erscheinungen; das Atom selber aber bleibt immer als Bodensatz<br />
zugr<strong>und</strong>e liegen. Soweit also das Atom seinem reinen Begriff nach gedacht wird, ist der<br />
leere Raum, die vernichtete Natur, seine Existenz; soweit es zur Wirklichkeit fortgeht,<br />
sinkt es zur materiellen Basis herab, die, Träger einer Welt von mannigfaltigen Beziehungen,<br />
nie anders als in ihr gleichgültigen <strong>und</strong> äußeren Formen existiert. Es ist dies eine<br />
notwendige Konsequenz, weil das Atom, als Abstrakt-Einzelnes <strong>und</strong> Fertiges vorausgesetzt,<br />
nicht als idealisierende <strong>und</strong> übergreifende Macht jener Mannigfaltigkeit sich zu<br />
betätigen vermag.“ Im Atom ist - was <strong>für</strong> ein Paradox - „der Tod der Natur ihre unsterbliche<br />
Substanz geworden [...]“ 11<br />
Marx wertet den Schritt vom demokritischen zum epikureischen Materialismus als einen<br />
Fortschritt der Philosophie, weil das Epikursche Atom mit seiner spontanen Abweichung<br />
von der angenommenen senkrechten Fallinie („Deklination“) übermechanische<br />
33<br />
7 Vgl. MEW 21, S. 292 f.; LW 38, S. 263.<br />
8 Engels, MEW 21, S. 494.<br />
9 Vgl. Konstantinow, S. 20.<br />
10 MEW 21, S. 277.<br />
11 MEW Erg.bd. 1, S. 294.