Marxismus und Anthroposophie - Institut für soziale Gegenwartsfragen
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men, besonders mit dem „Fallstrick der Hegelschen Dialektik“ 18 , weg mit der Revolutionstheorie,<br />
„das Ziel ist nichts, die Bewegung ist alles“. Der <strong>Marxismus</strong> ist keine umfassende<br />
<strong>und</strong> geschlossene Weltanschauung mit philosophischer F<strong>und</strong>amentierung mehr, man<br />
kann einzelne seiner Thesen mit denen anderer Weltbilder in beliebiger Weise „kreuzen“.<br />
19<br />
Und dann gab es diejenigen, die sich sagten: Der Sozialismus ist ein Wert. Es hilft gar<br />
nichts, sich auf historische Gesetze zu berufen, wenn man jemanden vom Wert des Sozialismus<br />
überzeugen will, damit er sich <strong>für</strong> ihn praktisch einsetzt. Also müssen wir den<br />
Sozialismus ethisch begründen. Ein solcher ethischer Sozialismus wurde im Rahmen der<br />
Marburger Schule des Neukantianismus von Hermann Cohen propagiert. Eine Reaktion<br />
darauf ist der Versuch des führenden „Austromarxisten“ Max Adler (1873-1934), den<br />
<strong>Marxismus</strong> mit der Kantschen Ethik zu koppeln.<br />
Aber natürlich war ein ethischer Sozialismus - wie schon bei Cohen - auch ganz ohne<br />
Marx denkbar. Die Verbindung von politischem Reformismus <strong>und</strong> ethischem Sozialismus<br />
ist es, aus der das Godesberger Programm der SPD von 1959 entsprang. Das ethische<br />
Engagement <strong>für</strong> den Sozialismus soll entscheiden; ob es sich aus dem Geist der Bergpredigt<br />
oder einem andern geistigen Quell speist, ist dabei unerheblich. Und insofern<br />
ethische Werte allgemeinmenschlich sind, kann die Partei des Sozialismus auch keine<br />
Klassenpartei mehr sein, sondern muß „Volkspartei“ werden.<br />
Aus dem linken Flügel der Arbeiterbewegung - neben <strong>und</strong>ogmatischen Randströmungen,<br />
auf die noch einzugehen sein wird - entwickelt sich die heutige kommunistische<br />
Weltbewegung. Ihre Tradition führt sie nach wie vor neben Marx <strong>und</strong> Engels auf W. I.<br />
Lenin (1870 - 1924) zurück, den Führer der ersten siegreichen sozialistischen Revolution.<br />
Der Bruch zwischen den Linken <strong>und</strong> denjenigen, denen sie „Verrat am Sozialismus“<br />
vorwarfen, war spätestens seit 1914 nicht mehr zu kitten. Damals hatten die sozialdemokratischen<br />
Parteien unter dem Eindruck des nationalistischen Kriegstaumels, entgegen<br />
allen früheren Beschwörungen internationaler antimilitaristischer proletarischer Solidarität,<br />
den jeweiligen Regierungen die Kriegskredite bewilligt. In Deutschland war nur Karl<br />
Liebknecht standhaft geblieben. Aus seiner „Gruppe Internationale“, der auch Rosa Luxemburg<br />
angehörte, bildete sich später der Spartakusb<strong>und</strong> <strong>und</strong> die Kommunistische Partei<br />
Deutschlands. „Sozialreform oder Revolution“ (Rosa Luxemburg) hieß die Frage, die<br />
diese Linke stellte <strong>und</strong> zugunsten der Unterordnung des Kampfs um Reformen unter das<br />
Ziel der sozialistischen Revolution beantwortete.<br />
Die Entwicklung der russischen Revolution - die mit so viel Hoffnungen verb<strong>und</strong>en war<br />
- verstärkte noch die Auseinandersetzungen in der Arbeiterbewegung. Die einen sprachen<br />
von der Diktatur der Partei über das Proletariat, ja von Staatssklaverei (Karl<br />
Kautsky), die anderen hielten dagegen, die Kritiker seien Renegaten, die das System der<br />
Lohnsklaverei längst akzeptiert hätten <strong>und</strong> allenfalls noch um den Preis der Ware Arbeitskraft<br />
feilschten.<br />
Die erste Phase des sowjetischen <strong>Marxismus</strong> kannte noch lebendige theoretische<br />
Kontroversen, die dann durch die stalinistische Kodifizierung des <strong>Marxismus</strong> beendet<br />
wurden. Die nachstalinistische Periode brachte eine gewisse Lockerung auch in der Hinsicht,<br />
daß Diskurse wieder möglich wurden. So wurden vorher als bürgerlich tabuisierte<br />
Wissenschaftsrichtungen wie die Kybernetik positiv aufgegriffen. In dieser Periode kam<br />
es aber auch zu neuen Spaltungen. Hatte zuvor schon der entmachtete <strong>und</strong> später ermordete<br />
Trotzkij sich gegenüber Stalin als Sachwalter des Leninschen Erbes hinzustellen<br />
versucht <strong>und</strong> die Sowjetunion als bürokratisch degenerierten Arbeiterstaat bezeichnet, so<br />
sind es jetzt die chinesischen Kommunisten mit Mao-Tse-Tung, die sich mit ihrem „sinisierten“<br />
bäuerlichen <strong>Marxismus</strong> als die wahren Revolutionäre verstehen <strong>und</strong> die sowjetischen<br />
Kommunisten <strong>und</strong> ihren Anhang als feige Revisionisten bezeichnen, die aus Angst<br />
vor einem Atomkrieg Abstriche am weltrevolutionären Konzept machten. 20<br />
Immer wieder hat es auch reformkommunistische Strömungen gegeben, die, in Ungarn,<br />
Polen, im Prager Frühling, einen menschlicheren Sozialismus forderten, wobei sie<br />
sich häufig auf den jungen Marx beriefen. Alle diese Versuche wurden von innen oder<br />
18<br />
Eduard Bernstein, Die Voraussetzungen des Sozialismus <strong>und</strong> die Aufgaben der Sozialdemokratie, 1899,<br />
Reinbek 1969.<br />
19<br />
Man muß sagen, daß sich theoretische <strong>und</strong> politische „Frontenbildung“ nicht unbedingt decken müssen.<br />
So schließt sich zum Beispiel Bernstein 1917 der „linken“ USPD an <strong>und</strong> kehrt erst 1920 in die SPD zurück.<br />
20<br />
Alle internationalen Auseinandersetzungen widerspiegelten sich noch einmal in der Konkurrenz traditionsmarxistischer,<br />
trotzkistischer <strong>und</strong> maoistischer beziehungsweise anderweitig „antirevisionistischer“ Gruppen<br />
<strong>und</strong> Grüppchen in der Studenten- <strong>und</strong> Jugendbewegung der westlichen Länder.<br />
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