Marxismus und Anthroposophie - Institut für soziale Gegenwartsfragen
Marxismus und Anthroposophie - Institut für soziale Gegenwartsfragen
Marxismus und Anthroposophie - Institut für soziale Gegenwartsfragen
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
Die Religion ist, so sagt man, später entstanden als die Kunst, <strong>für</strong> die früheste Geschichte<br />
ist sie nicht nachweisbar. Die religiösen Vorstellungen gelten allesamt als verzerrte<br />
Widerspiegelung durchaus irdischer Mächte in der phantastischen Verkleidung als<br />
jenseitige. Mangelnde Naturerkenntnis <strong>und</strong> -beherrschung soll die Ursache dieser Verzerrung<br />
sein, zu der sich mit dem Zerfall der Urgesellschaft die Undurchschaubarkeit <strong>und</strong><br />
Unbeherrschbarkeit des gesellschaftlichen Prozesses dazugesellt.<br />
Die Frühformen der Religion sollen auf der Vergottung von Naturkräften beruhen, von<br />
Pflanzen <strong>und</strong> Tieren (Aninismus - Totemismus). Relikte davon erhalten sich bis in spätere<br />
Zeiten. Die gelegentliche Verwandlung des Zeus in einen Stier, der Menschenkörper <strong>und</strong><br />
der H<strong>und</strong>ekopf beim ägyptischen Gott Anubis werden da<strong>für</strong> als Beispiele angeführt. Mit<br />
der Vergottung auch <strong>soziale</strong>r Kräfte verändere sich die Funktion der alten Götter: Ares/Mars<br />
wird aus dem Gott des Wachstums zum Kriegsgott, Hephaistos aus dem Gott<br />
des Feuers zum Gott des Schmiedehandwerks. Alle Religion sei ursprünglich polytheistisch.<br />
Die Entstehung des Monotheismus in ihren verschiedenen Etappen stellt<br />
man sich so vor: Die Götter der besiegten Völker müssen denen der Siegervölker Platz<br />
machen, nehmen dabei aber einige ihrer Charakterzüge an. Stammesverschmelzungen<br />
führen zu Religionsverschmelzungen. Die Klassenhierarchie wird ins Überirdische projiziert.<br />
Engels ist überzeugt, daß „der eine Gott ohne den einen König nie zustandegekommen<br />
wäre, die Einheit des die vielen Naturerscheinungen kontrollierenden, die widerstreitenden<br />
Naturkräfte zusammenhaltenden Gottes nur das Abbild des Einen, die widerstreitenden<br />
<strong>und</strong> in ihren Interessen kollidierenden Individuen scheinbar oder wirklich zusammenhaltenden<br />
orientalischen Despoten ist [...]“ 8<br />
Mangelnde technisch-rationale Naturbeherrschung ist es, die zu Versuchen magischirrationaler<br />
Einflußnahme auf die Naturmächte in der Urgesellsehaft führen soll: Medizinmänner<br />
<strong>und</strong> Schamanen versuchen durch Zauber <strong>und</strong> Opfer, die anthropomorph vorgestellten<br />
Naturkräfte gnädig zu stimmen. Hier hat nach marxistischer Auffassung aller religiöse<br />
Kultus seine Quelle. Mit der Herausbildung einer Priesterschicht wird der religiöse<br />
Dienst zu einer Sphäre der gesellschaftlichen Arbeitsteilung, die Kirchen verfügen bald<br />
über eine enorme Macht über das Denken der Menschen, die durch die Verwandlung<br />
einzelner Religionen in Staatsreligionen noch verstärkt wird.<br />
Die Religion, so liest es sich, ist eine beharrende Kraft, doch letztlich unterliegt auch<br />
sie der Veränderung. Eine solche ist z.B. die Herausbildung des Christentums, die man<br />
im Zusammenhang mit der Zersetzung der Sklavenhalterordnung betrachtet. Das Christentum<br />
„übernehme“ Elemente der von ihm verdrängten Religionen in sein eigenes Glaubensgebäude:<br />
den Monotheismus <strong>und</strong> die Messias-Vorstellungen des Alten Testaments,<br />
das Motiv vom Leiden, Sterben <strong>und</strong> Auferstehen eines Gottes aus den Mythen östlicher<br />
Völkerschaften, dazu - wie man meint, „vulgarisierte“ - Vorstellungen aus der griechischen<br />
Philosophie (Logos-Lehre) <strong>und</strong> aus der Stoa. Innerhalb des Imperium Romanum als Religion<br />
der unterdrückten Massen entstanden, habe sich das Christentum später in die offizielle<br />
Ideologie der herrschenden Klassen verwandelt. Damit seien auch einige demokratische<br />
Wesenszüge des Urchristentums verloren gegangen. Das Christentum „feudalisierte“<br />
sich, die römisch-katholische Hierarchie entstand. „Im 16. Jahrh<strong>und</strong>ert löste sich mit<br />
der Herausbildung <strong>und</strong> Stärkung der Bourgeoisie der Protestantismus mit seiner Idee<br />
vom unmittelbaren Umgang des Menschen mit Gott, seinem Appell an die Einzelpersönlichkeit<br />
<strong>und</strong> seiner Predigt solcher Tugenden wie Sparsamkeit, Fleiß usw. aus der feudalen<br />
katholischen Kirche heraus.“ 9 Die Entwicklung des Kapitalismus zwinge andererseits<br />
auch den Katholizismus zur Anpassung. Daß sich <strong>soziale</strong> Bewegungen religiös geben,<br />
wird nicht als Widerspruch zur These vom Überbaucharakter der Religion empf<strong>und</strong>en:<br />
den ausschließlich mit religiöser Ideologie gefütterten Massen mußten ihre eigenen Interessen<br />
in religiöser Verkleidung vorgeführt werden, um einen großen Sturm zu erzeugen“,<br />
schreibt Engels über die Bauernkriege. 10<br />
Man konstatiert, daß sich zahlreiche Anhänger der Religion heute <strong>für</strong> <strong>soziale</strong>n Fortschritt<br />
<strong>und</strong> Frieden einsetzen. Die Kommunisten streben gemeinsames Handeln mit den<br />
religiös beeinflußten Werktätigen an, wollen aber dabei nicht dasjenige vergessen, was<br />
sie die reaktionäre Rolle der religiösen Ideologie, ihren unwissenschaftlichen, vernunftwidrigen<br />
Charakter nennen. Die regierenden kommunistischen Parteien gewähren zwar<br />
Religionsfreiheit, stecken den religiösen Gemeinschaften aber einen relativ engen Rahmen<br />
der Betätigung <strong>und</strong> führen zugleich eine massive atheistische Propaganda, die zu-<br />
8<br />
An Marx, 18.10.1846, in MEW 27, S. 57.<br />
9<br />
Konstantinow, S. 465. Zum Komplex Religion vgl. auch Steigerwald 1973 <strong>und</strong> Tokarew 1976.<br />
10<br />
MEW 21, S. 204.<br />
179