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Marxismus und Anthroposophie - Institut für soziale Gegenwartsfragen

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122<br />

Freiheit <strong>und</strong> Notwendigkeit in der Geschichte -<br />

Anthroposophische <strong>und</strong> marxistische Gesellschaftsauffassung<br />

Steiner will <strong>soziale</strong> Gesetzmäßigkeiten aufweisen, die „<strong>für</strong> das <strong>soziale</strong> Leben mit einer<br />

solchen Ausschließlichkeit <strong>und</strong> Notwendigkeit“ gelten, „wie nur irgendein Naturgesetz <strong>für</strong><br />

ein gewisses Gebiet von Naturwirkungen gilt“. 1 Jedoch begründet <strong>für</strong> ihn die objektive<br />

Wirksamkeit solcher Gesetze keine geschichtliche Notwendigkeit im Sinne einer vorbestimmten<br />

Gr<strong>und</strong>richtung des Geschichtsverlaufs. Die Betrachtung von Steiners sogenanntem<br />

Sozialem Hauptgesetz mag dies verdeutlichen. Es besagt: „Das Heil einer Gesamtheit<br />

von zusammenarbeitenden Menschen ist umso größer, je weniger der einzelne<br />

die Erträgnisse seiner Leistungen <strong>für</strong> sich beansprucht, das heißt, je mehr er von diesen<br />

Erträgnissen an seine Mitarbeiter abgibt, <strong>und</strong> je mehr seine eigenen Bedürfnisse nicht<br />

aus seinen Leistungen, sondern aus den Leistungen der anderen befriedigt werden.“<br />

Einrichtungen, die dem Gesetz widersprechen, führen, so Steiner, zu Mißständen. Er will<br />

das Gesetz keineswegs bloß gesinnungsethisch aufgefaßt wissen, sondern hält <strong>soziale</strong><br />

Einrichtungen <strong>für</strong> erforderlich, die seine Beachtung sichern. 2<br />

Das Gesetz legt die Handlungsweise der Menschen nicht fest; welche Einrichtungen<br />

diese schaffen, ist Sache ihrer Entscheidung <strong>und</strong> Phantasie. Die Handlungsursache ist<br />

freiwirkend, <strong>und</strong> das Gesetz beschreibt nur den notwendigen Zusammenhang zwischen<br />

einer bestimmten Handlungsweise <strong>und</strong> ihren Wirkungen. Wird das Gesetz nicht beachtet,<br />

macht es sich allerdings, in katastrophischer Weise <strong>und</strong> hinter dem Rücken der Menschen<br />

wirkend, gegen sie geltend. Wenn-dann-Relationen dieser Art aufzudecken ist,<br />

nach Steiner, Aufgabe der Sozialwissenschaft. Diese ist - Steiner spricht es im Zusammenhang<br />

mit der Volkswirtschaftslehre so aus - theoretisch <strong>und</strong> praktisch zugleich. Theoretisch,<br />

soweit sie beobachtet <strong>und</strong> Beobachtungen deutet, so wie man aus Barometer<strong>und</strong><br />

Thermometerstand Luftdruck <strong>und</strong> Wärmestand abliest. Praktisch, insoweit aus diesen<br />

Beobachtungen sinnvolle Maßnahmen sich ableiten müssen, die nicht an Symptomen,<br />

sondern an Ursachen ansetzen. Darüber hinaus geht es um die Reflexion des moralischen<br />

Aspekts der Anwendung der Wissenschaft, die <strong>für</strong> Steiner müßige Neugierde<br />

darstellte, würde sie nicht auf die Erhöhung des Daseinswerts des einzelnen hinarbeiten:<br />

„Den wahren Wert erhalten die Wissenschaften erst durch eine Darstellung der menschlichen<br />

Bedeutung ihrer Resultate.“ 3<br />

Von entscheidender Bedeutung <strong>für</strong> die Herausarbeitung der Spezifik des anthroposophischen<br />

gegenüber dem marxistischen Geschichts- <strong>und</strong> Gesellschaftsverständnis ist<br />

das Problem des Verhältnisses von Freiheit <strong>und</strong> Notwendigkeit. Dieses Besondere an<br />

Steiners Freiheitsphilosophie besteht nicht etwa darin, daß dieser im Anschluß an Stirner<br />

<strong>und</strong> Mackay der schrankenlosen Willkür eines ungeschichtlichen <strong>und</strong> ungesellschaftlichen<br />

Individuums das Wort reden würde. Nicht nur, daß er in der Ökonomie auf den objektiven<br />

Gemeinsinn des kollektiven Urteils assoziierter Produzenten, Konsumenten <strong>und</strong><br />

Händler setzt, er schätzt vor allem den Wert von gesellschaftlicher Arbeit <strong>und</strong> Kulturentwicklung<br />

<strong>für</strong> die Herausbildung der freien Persönlichkeit hoch ein. Folgt der Mensch auf<br />

der Stufe der Wildheit zwanghaft seinen Trieben <strong>und</strong> Gelüsten, so ist es gerade die Seßhaftwerdung<br />

<strong>und</strong> die äußere Arbeit an der Natur im Ackerbau, die auch zur inneren Arbeit,<br />

zum Umgehenlernen mit den Begierden <strong>und</strong> damit zur immer weitergehenden Fähigkeit<br />

der Selbststeuerung führt. 4<br />

Freiheit wird auch <strong>für</strong> Steiner erst geschichtlich errungen, ja dem Reich der Notwendigkeit<br />

abgetrotzt: Es ist der geschichtliche Weg der Menschheitsentwicklung, der vom<br />

bloß „automatischen Handeln (nach natürlichen Trieben <strong>und</strong> Instinkten)“ über das „gehorsame<br />

Handeln (nach sittlichen Normen)“ zum „freien Geist“ führt, der diese „Vorstufen der<br />

Sittlichkeit“ überwindet, sich herausarbeitet aus Naturzwang <strong>und</strong> Normzwang. 5 Wenn<br />

Steiner den menschlichen Freiheitsspielraum in der Geschichte auch größer einschätzt<br />

als Marx, ignoriert er so wenig wie dieser materiell-ökonomische Voraussetzungen der<br />

Emanzipation des Menschen. In den Berliner Arbeitervorträgen formuliert er mit aller<br />

1<br />

Geisteswiss. u. <strong>soziale</strong> Frage, in GA 34, S. 213.<br />

2<br />

ibd. Zitat im Original kursiv.<br />

3<br />

GA 4, S. 271. Zum Vorhergehenden vgl. GA 340, S. 30f.<br />

4<br />

Vgl. in GA 340; GA 94, S. 239.<br />

5<br />

GA 4, S. 180.

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