Marxismus und Anthroposophie - Institut für soziale Gegenwartsfragen
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Einige westeuropäische kommunistische Parteien haben den Begriff der Diktatur des<br />
Proletariats aus ihrer Programmatik entfernt. Von seinen Be<strong>für</strong>wortern wird heute argumentiert,<br />
diese „Diktatur“ sei zum einen nötig, um den gestürzten Widerstand der „Ausbeuterklassen“<br />
niederzuhalten, zum anderen, <strong>und</strong> das sei ihre Hauptaufgabe, konstruktiv<br />
bei der Erziehung der Massen <strong>und</strong> der Einrichtung einer Planwirtschaft wirken. Gegen die<br />
Mehrheit soll sich die Diktatur, jedenfalls der Theorie nach, demokratisch, nur gegen die<br />
Minderheit diktatorisch benehmen. So soll im realen Sozialismus die Unterdrückungsfunktion<br />
des Staates gegenüber seinen anderen Aufgaben, deren wichtigste der Schutz<br />
gegen äußere Aggression ist, abnehmen, <strong>und</strong> als erster Staat in der Geschichte soll der<br />
sozialistische Staat schließlich ganz absterben <strong>und</strong> in der kommunistischen Selbstverwaltung<br />
sich auflösen, zu der die Teilnahme am Staatsleben eine Art Vorschule <strong>für</strong> die Massen<br />
sein soll. Doch seien heute noch gewisse Zwangsregelungen nötig, da die Massen<br />
sich nur langsam daran gewöhnten, ihren gesellschaftlichen Verpflichtungen freiwillig<br />
nachzukommen. 15<br />
Der heutige „revolutionäre Weltprozeß“ bringe eine Reihe von staatlichen Übergangsformen<br />
hervor, von den jungen Nationalstaaten bis hin zu der von einigen westlichen<br />
Kommunistischen Parteien anvisierten antimonopolistischen Demokratie. Das Thema<br />
Revolution hat den <strong>Marxismus</strong> stets zum Schreckgespenst der Begüterten <strong>und</strong> zu einer<br />
Hoffnung <strong>für</strong> Entrechtete gemacht. Revolutionen sind nach marxistischer Auffassung die<br />
„Lokomotiven der Geschichte“, ihre wichtigsten Wendepunkte, keine Störungen des<br />
„normalen Geschichtsverlaufs“. Sie entstehen aus der Dialektik von Produktivkräften <strong>und</strong><br />
Produktionsverhältnissen: die Sprengung der Hülle einer überlebten sozialökonomischen<br />
Formation ist in jedem Fall ein qualitativer Sprung. Da die herrschenden Klassen nicht<br />
freiwillig abzutreten pflegten, sondern den politischen Überbau der alten Gesellschaft mit<br />
seinen Zwangs- <strong>und</strong> Gewaltinstrumenten zur Verteidigung überlebter Ordnungen ausnützten,<br />
könne keine unterdrückte Klasse, auch nicht die Arbeiterklasse, ohne ein gewisses<br />
Maß an Gewalt auskommen, obwohl der Weg ohne Bürgerkrieg heute möglich <strong>und</strong><br />
erstrebenswert sei, jedenfalls in einer ganzen Reihe von Ländern. 16<br />
Revolutionen sind <strong>für</strong> den <strong>Marxismus</strong> nicht das Ergebnis subjektiver Fehler, etwa<br />
mangelnder Reformbereitschaft bei den Herrschenden. Reformen dämpfen nur die gesellschaftlichen<br />
Widersprüche, aber lösen sie nicht auf. Erst unter den Bedingungen der<br />
klassenlosen Gesellschaft würden gesellschaftliche Evolutionen keine politischen Revolutionen<br />
mehr sein müssen, hat Marx einmal gesagt. 17<br />
Die historischen Typen von Revolutionen werden nach den Gesellschaftsformationen<br />
unterschieden, die von ihnen ins Leben gerufen werden, wobei der <strong>soziale</strong> Inhalt einer<br />
Revolution <strong>und</strong> ihre <strong>soziale</strong>n Triebkräfte nicht einfach identisch sind -so war die französische<br />
Revolution eine bürgerliche, wurde aber keineswegs nur von den Bürgern gemacht.<br />
Bürgerlich-kapitalistische <strong>und</strong> sozialistische Revolution unterscheiden sich nicht nur einfach<br />
dadurch, daß die sozialistische Revolution die erste in der Geschichte sein soll, die<br />
nicht eine neue Form der Ausbeutung der Mehrheit durch die Minderheit etabliert, sondern<br />
die Ausbeutung als solche abschafft. Auch bilden sich bei der ersteren die neuen<br />
Produktionsverhältnisse zusammen mit den neuen Produktivkräften bereits ansatzweise<br />
in der alten gesellschaftlichen Hülle. Die Produktionsverhältnisse des Sozialismus dagegen<br />
könne man nicht im Schoße der alten Gesellschaft heranwachsen lassen, weil sich<br />
nicht im Rahmen einzelner Betriebe gesellschaftliches Eigentum schaffen lasse, sondern<br />
nur im gesamtgesellschaftlichen Rahmen. Es gilt aus diesem Gr<strong>und</strong>e als Opportunismus<br />
<strong>und</strong> Reformismus, auf ein allmähliches Heranwachsen des Sozialismus zu hoffen. Ohne<br />
Erkämpfung der Staatsmacht durch die Arbeiterklasse unter der Führung einer marxistisch-leninistischen<br />
Partei sei der Sozialismus nicht zu erringen.<br />
Sehr großen Wert legt der <strong>Marxismus</strong> auf die richtige Bestimmung des Verhältnisses<br />
von objektiven Bedingungen <strong>und</strong> subjektivem Faktor in der Revolution. Diese entsteht<br />
nicht von allein, ohne den „subjektiven Faktor“, aber auch nicht ohne halbwegs reife materielle<br />
Bedingungen. Erforderlich ist eine ,revolutionäre Situation‘, in der ,die oben nicht<br />
mehr können <strong>und</strong> die unten nicht mehr wollen‘,- was eine Vermehrung des Elends, wenn<br />
auch nicht unbedingt im physischen, so doch im <strong>soziale</strong>n Sinne voraussetzt. Revolutio-<br />
15<br />
Vgl. Konstantinow, S. 403f. In der Sowjetunion soll der Staat bereits den Charakter eines „Staats des<br />
ganzen Volkes“ angenommen haben, ohne den Charakter der Diktatur des Proletariats eingebüßt zu haben,<br />
eine nicht einfach nachzuvollziehende These.<br />
16<br />
Vgl. Sagladin 1973, S. 97ff.; Erklärungen der internationalen Beratungen von kommunistischen <strong>und</strong> Arbeiterparteien<br />
1957, 1960 <strong>und</strong> 1969; MEW 18, S. 160.<br />
17<br />
MEW 4, S. 182.<br />
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