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Marxismus und Anthroposophie - Institut für soziale Gegenwartsfragen

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fühlsmäßigen Bezug zu einer geistigen Welt ausgegangen. Dem Mitglied der Anthroposophischen<br />

Gesellschaft wird kein bestimmtes Religionsbekenntnis abverlangt, denn<br />

<strong>Anthroposophie</strong> als „Wissenschaft vom Geiste“ versucht den geistigen Gehalt, den<br />

„Weisheitskern“ in allen Religionen aufzudecken <strong>und</strong> zu achten. Die „Christengemeinschaft“<br />

als Bewegung <strong>für</strong> religiöse Erneuerung ist keine Unterorganisation der Anthroposophischen<br />

Gesellschaft, obwohl der Kultus auf Hinweisen Steiners fußt, der von Priestern,<br />

die mit den traditionellen christlichen Konfessionen unzufrieden waren, um Hilfe<br />

gebeten worden war. Die Mitgliedschaft in ihr bleibt <strong>für</strong> den einzelnen Anthroposophen<br />

Privatsache, wie auch umgekehrt die Mitgliedschaft in den Gemeinden der Christengemeinschaft<br />

nicht im mindestens ein Bekenntnis zur Anthroposophischen Gesellschaft zur<br />

Voraussetzung hat. 5<br />

Dennoch: Es ist nicht daran vorbeizusehen, daß dem Christentum <strong>und</strong> der Christus-<br />

Gestalt eine zentrale Rolle in der <strong>Anthroposophie</strong> zukommt. Steiner, mag das in einer<br />

Zeit, wo es selbst unter religiös gesinnten Menschen Mode ist, in die religiöse Ferne zu<br />

schweifen, auch manchem den Zugang zu ihm erschweren, ist erklärtermaßen ein christlicher<br />

Denker, spätestens seit jenem Datum um die Jahrh<strong>und</strong>ertwende, von dem er<br />

schreibt, daß es ihm „das innere Gestanden-Haben vor dem Mysterium von Golgatha in<br />

innerster, ernstester Erkenntnisfeier“ gebracht habe, auf das es in seiner Entwicklung<br />

besonders angekommen sei. 6 Die Religionsbekenntnisse werden von Steiner als gleichberechtigt<br />

verstanden, das Christentum aber gilt ihm nicht primär als Bekenntnis, sondern<br />

als Tatsache: zu dieser Tatsache müsse jedes Religionsbekenntnis ein Verhältnis gewinnen.<br />

Steiners „paulinisches“ Christentum stemmt sich gegen den Strom der Theologie<br />

seiner Zeit, soweit sie den Kern der Evangelien mit den Mitteln der historischen Kritik<br />

freilegen will. So erhellend die Untersuchung der historischen Dokumente, der „Quellen“<br />

der Evangelisten z.B., auch ist, das wesentliche der religiösen Urk<strong>und</strong>en bekomme man<br />

auf diese Weise so wenig in den Blick wie das Wesen eines chemischen Gesetzes durch<br />

die Beschreibung der Retorten <strong>und</strong> Pinzetten, die zu seiner Entdeckung geführt haben.<br />

Seien die religiösen Dokumente doch in einer Mysteriensprache verfaßt <strong>und</strong> zeugten sie<br />

doch von inneren (Gottes-) Erfahrungen ihrer Autoren, die sich nur dem erschließen, der<br />

sich auf den Weg macht, der zu den geistigen Quellen dieser Erfahrungen führt. 7<br />

Für eine äußere Betrachtung kann Christus nie mehr sein als ein hervorragender<br />

Mensch, <strong>und</strong> sei er auch - im Sinne des Spinoza - der hervorragendste. Ist aber das<br />

Christentum nicht eine Tatsache, hat sich nicht wahrhaftig ein göttliches Wesen von<br />

höchstem Rang, indem es sich inkarnierte, den Tod auf sich nahm <strong>und</strong> ihn überwand, mit<br />

dem Schicksal der Erde verb<strong>und</strong>en, so daß diese nicht -den Gesetzen der physischen<br />

Materie gemäß - dereinst zugr<strong>und</strong>e gehen muß, sondern sich zu einer neuen sonnenhaften<br />

Existenz wandeln <strong>und</strong> vergeistigen kann <strong>und</strong> mit ihr alle Erdengeschöpfe, -ist alles<br />

dies nicht der Fall, dann ist - um mit dem Apostel zu reden - aller Glaube eitel. Und zu<br />

dem eben skizzierten Christus-Bild arbeitet sich Steiner durch: Christus ist ihm der Logos,<br />

der wesenhafte Geist der Liebe mit dem sich die einzelne menschliche Persönlichkeit<br />

durchdringen <strong>und</strong> immer mehr identisch machen muß, um ihr eigenes Urbild <strong>und</strong> den<br />

Sinn der Erde zu finden: die Liebe zu allen Wesen. Das ist im Sinne Johannes des Täufers<br />

gedacht: „Er muß wachsen, ich aber muß abnehmen“, im Sinne des Paulus-Worts<br />

vom „Christus in mir“. 8 Die Tat des Christus ist der Impuls, ohne den die Schöpfung hätte<br />

verwelken <strong>und</strong> absterben müssen, ohne die die Entwicklung der selbstbewußten menschlichen<br />

Persönlichkeit fehllaufen, in eine qualvolle egoistische Verhärtung führen müßte.<br />

Durch die Aufnahme des Christus-Impulses kann der Mensch dieser Gefahr entrinnen.<br />

Dieser Impuls vereinigt die Menschheit über alle Grenzen der Rassen <strong>und</strong> Nationen hinweg,<br />

eine Menschheit, die ohne ihn im Kampf aller gegen alle versinken müßte. Die Rede<br />

vom „Heiland“ hat <strong>für</strong> Steiner keinen bloß „allegorischen oder symbolischen Sinn“, denn<br />

Christus gilt ihm als der universelle Arzt, ohne den die Menschheit an der Ich-Entwicklung<br />

erkranken müßte, der Sünde verfallen, wie der alte Ausdruck da<strong>für</strong> lautet. Denn die natürlichen<br />

Kräfte, in denen sich der „Vater“ offenbart, vermögen - im Menschen sich selbst<br />

überlassen - ohne die Hilfe des „Sohnes“ nicht, die moralisch-ethische „Krankheit zum<br />

Tode“ zu überwinden, die ihn immer wieder neu in Gestalt der beiden Versuchermächte<br />

bedroht. Die eine will ihn in Selbstüberhebung von der Erde lösen, die andere ihn in<br />

Geistblindheit an die Materie fesseln. Steiner verfolgt diese beiden sich berührenden<br />

Extreme bis hin zu ihren wesenhaften Verursachern, die er in der Gestalt des Luzifer <strong>und</strong><br />

5<br />

Vgl. GA 78, Vortr. 6.9.21; R. u. W. Gädecke 1983; GA 54, Vortr. 16. 11.05.<br />

6<br />

GA 28, S. 259.<br />

7<br />

Vgl. GA 8, S. 16f., s. a. im Literaturverzeichnis zum Thema „Christologie“.<br />

185<br />

8 Johannes 3, 30; Galater 2, 20.

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