Marxismus und Anthroposophie - Institut für soziale Gegenwartsfragen
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Der <strong>Marxismus</strong> zum Wesen<br />
der menschlichen Erkenntnis<br />
In Selbstdarstellungen der marxistischen Erkenntnistheorie wird unterstrichen, ihre<br />
Gr<strong>und</strong>lage sei die Anerkennung der objektiven Realität als unabhängig von Bewußtsein<br />
<strong>und</strong> Empfindung: Gegenstand der Erkenntnis sei die Materie <strong>und</strong> ihre Dialektik. Für den<br />
Materialisten sei das faktisch Gegebene die in den Empfindungen abgebildete Außenwelt,<br />
während <strong>für</strong> den subjektiven Idealisten nur die Empfindung „gegeben“ sei: Ihm werde<br />
die Welt zum Empfindungsaggregat. „Für den Agnostiker ist ebenfalls die Empfindung<br />
,unmittelbar gegeben‘, er geht aber nicht darüber hinaus, weder zur materialistischen<br />
Anerkennung der Realität der Außenwelt, noch der idealistischen Behauptung, daß die<br />
Welt unsere Empfindung sei.“ 1<br />
Indem man den dialektischen Materialismus <strong>und</strong> die materialistische Dialektik zur<br />
Gr<strong>und</strong>lage der Erkenntnistheorie erklärt <strong>und</strong> dieser damit inhaltliche Aussagen über Materie<br />
<strong>und</strong> Bewußtsein, Bewegung <strong>und</strong> ihre Gesetze usw. vorschaltet, die vor aller erkenntnistheoretischen<br />
Reflexion gewiß sein sollen, ist die Frage nach dem Wesen der<br />
Erkenntnis eigentlich vorab beantwortet. Der marxistischen Erkenntnistheorie bleibt die<br />
Aufgabe der näheren Ausführung <strong>und</strong> der Untersuchung einer Reihe von Einzelfragen<br />
unter den gemachten Voraussetzungen. Diese Voraussetzungen aber sollen Erkenntnisse<br />
darstellen, also Bestandteil dessen sein, was Erkenntnistheorie gerade zu hinterfragen,<br />
in seinem Wert zu beleuchten, in seinem Vollzug zu beobachten hat. Begründet wird<br />
diese Herangehensweise, die sich gegenüber dem Vorwurf der Zirkelhaftigkeit rechtfertigen<br />
muß, damit, daß ohnehin „sich eine voraussetzungslose Erkenntnistheorie als unmöglich<br />
erweisen“ muß. 2 Denn Erkenntnis, neues Wissen, werde als Resultat der praktischen<br />
Tätigkeit gewonnen: die praktische Wechselwirkung des Subjekts „menschliche<br />
Gesellschaft“ <strong>und</strong> des Objekts „Natur“ sei der Schlüssel zum Verständnis der Erkenntnis.<br />
Im gesellschaftlichen Arbeitsprozeß wird das Objekt Natur den Bedürfnissen dieser<br />
Menschen entsprechend verändert. Die Arbeit schafft jedoch, wie Marx sagt, nicht nur<br />
einen Gegenstand <strong>für</strong> das Subjekt, sondern auch ein Subjekt <strong>für</strong> den Gegenstand: In der<br />
Subjekt-Objekt-Dialektik erwerben sich die Menschen ihre zweite Natur, - Kultur, Zivilisation.<br />
3 Die erkenntnismäßige Subjekt-Objekt-Relation gilt nur als Teilmoment des gesellschaftlichen<br />
Lebensprozesses, in dem die Menschen durch Arbeit in einem Stoffwechselprozeß<br />
mit der Natur ihre Existenzmittel erzeugen müssen. Außerhalb der Gesellschaft<br />
gebe es kein Subjekt der Erkenntnis, <strong>und</strong> der Erkenntnisprozeß habe gesellschaftlichen<br />
Charakter. Auf den naheliegenden Einwand, daß nicht die Gesellschaft als solche,<br />
sondern Individuen - Pythagoras, Newton usw. - erkennen, hat man die Antwort parat, daß<br />
das Niveau der Erkenntnis nicht durch die natürlichen <strong>und</strong> individuellen Besonderheiten<br />
der Menschen bestimmt werde, sondern vor allem durch die gesellschaftlichen Bedingungen<br />
<strong>und</strong> Möglichkeiten. Newton habe eben - bei aller Genialität - die Relativitätstheorie<br />
nicht schaffen können: das war beim damals gegebenen Stand der Wissenschaft <strong>und</strong><br />
Technik unmöglich.<br />
Erkenntnis ist eine Relation zwischen Subjekt <strong>und</strong> Objekt, wobei als Objekt jener Teil<br />
der objektiven Realität aufzufassen ist, mit dem das Subjekt in eine praktische bzw. erkenntnismäßige<br />
Wechselwirkung getreten ist. Was Objekt wird, hängt also immer auch<br />
vom Grad der Naturbeherrschung, von der Entwicklung der Gesellschaft ab. Mehr noch,<br />
die sinnlich-gegebene Welt ist in gewissem Maße sogar Produkt des menschlichen Handelns,<br />
das die Natur immer weiter überformt. Praxis wird im <strong>Marxismus</strong> aufgefaßt als<br />
gegenständlich-materielle Tätigkeit; die materielle Beziehung zur Welt erscheint als die<br />
<strong>für</strong> den Menschen primäre, er selber als ein primär materielles Wesen. Daß er über Bewußtsein<br />
<strong>und</strong> Willen verfügt, beeinflusse seine Wechselwirkung mit den Naturdingen<br />
zwar wesentlich, ändere aber nichts an ihrem materiellen Charakter. 4<br />
Alle Formen der Tätigkeit basieren <strong>für</strong> den <strong>Marxismus</strong> letztlich auf dem Arbeitsprozeß.<br />
Das heißt nicht, daß man die Praxis schlicht auf materielle Produktionstätigkeit reduziert -<br />
man sieht vielmehr, daß dadurch der Mensch in ein bloß ökonomisches Wesen verwandelt<br />
würde, dessen Bewußtsein rein technischen Charakter hätte. Dem Menschen als<br />
1<br />
LW 14, S. 105. Vgl. zu diesem Kapitel insgesamt Konstantinow, S. 181-250.<br />
2<br />
Marxistische Philosophie, S. 502.<br />
3<br />
Vgl. Gr<strong>und</strong>risse, S. 14. Zur Subjekt-Objekt-Dialektik auch Lektorski 1968.<br />
4 S. Konstantinow, S. 188.