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Marxismus und Anthroposophie - Institut für soziale Gegenwartsfragen

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95<br />

Der <strong>Marxismus</strong> zum Wesen<br />

der menschlichen Erkenntnis<br />

In Selbstdarstellungen der marxistischen Erkenntnistheorie wird unterstrichen, ihre<br />

Gr<strong>und</strong>lage sei die Anerkennung der objektiven Realität als unabhängig von Bewußtsein<br />

<strong>und</strong> Empfindung: Gegenstand der Erkenntnis sei die Materie <strong>und</strong> ihre Dialektik. Für den<br />

Materialisten sei das faktisch Gegebene die in den Empfindungen abgebildete Außenwelt,<br />

während <strong>für</strong> den subjektiven Idealisten nur die Empfindung „gegeben“ sei: Ihm werde<br />

die Welt zum Empfindungsaggregat. „Für den Agnostiker ist ebenfalls die Empfindung<br />

,unmittelbar gegeben‘, er geht aber nicht darüber hinaus, weder zur materialistischen<br />

Anerkennung der Realität der Außenwelt, noch der idealistischen Behauptung, daß die<br />

Welt unsere Empfindung sei.“ 1<br />

Indem man den dialektischen Materialismus <strong>und</strong> die materialistische Dialektik zur<br />

Gr<strong>und</strong>lage der Erkenntnistheorie erklärt <strong>und</strong> dieser damit inhaltliche Aussagen über Materie<br />

<strong>und</strong> Bewußtsein, Bewegung <strong>und</strong> ihre Gesetze usw. vorschaltet, die vor aller erkenntnistheoretischen<br />

Reflexion gewiß sein sollen, ist die Frage nach dem Wesen der<br />

Erkenntnis eigentlich vorab beantwortet. Der marxistischen Erkenntnistheorie bleibt die<br />

Aufgabe der näheren Ausführung <strong>und</strong> der Untersuchung einer Reihe von Einzelfragen<br />

unter den gemachten Voraussetzungen. Diese Voraussetzungen aber sollen Erkenntnisse<br />

darstellen, also Bestandteil dessen sein, was Erkenntnistheorie gerade zu hinterfragen,<br />

in seinem Wert zu beleuchten, in seinem Vollzug zu beobachten hat. Begründet wird<br />

diese Herangehensweise, die sich gegenüber dem Vorwurf der Zirkelhaftigkeit rechtfertigen<br />

muß, damit, daß ohnehin „sich eine voraussetzungslose Erkenntnistheorie als unmöglich<br />

erweisen“ muß. 2 Denn Erkenntnis, neues Wissen, werde als Resultat der praktischen<br />

Tätigkeit gewonnen: die praktische Wechselwirkung des Subjekts „menschliche<br />

Gesellschaft“ <strong>und</strong> des Objekts „Natur“ sei der Schlüssel zum Verständnis der Erkenntnis.<br />

Im gesellschaftlichen Arbeitsprozeß wird das Objekt Natur den Bedürfnissen dieser<br />

Menschen entsprechend verändert. Die Arbeit schafft jedoch, wie Marx sagt, nicht nur<br />

einen Gegenstand <strong>für</strong> das Subjekt, sondern auch ein Subjekt <strong>für</strong> den Gegenstand: In der<br />

Subjekt-Objekt-Dialektik erwerben sich die Menschen ihre zweite Natur, - Kultur, Zivilisation.<br />

3 Die erkenntnismäßige Subjekt-Objekt-Relation gilt nur als Teilmoment des gesellschaftlichen<br />

Lebensprozesses, in dem die Menschen durch Arbeit in einem Stoffwechselprozeß<br />

mit der Natur ihre Existenzmittel erzeugen müssen. Außerhalb der Gesellschaft<br />

gebe es kein Subjekt der Erkenntnis, <strong>und</strong> der Erkenntnisprozeß habe gesellschaftlichen<br />

Charakter. Auf den naheliegenden Einwand, daß nicht die Gesellschaft als solche,<br />

sondern Individuen - Pythagoras, Newton usw. - erkennen, hat man die Antwort parat, daß<br />

das Niveau der Erkenntnis nicht durch die natürlichen <strong>und</strong> individuellen Besonderheiten<br />

der Menschen bestimmt werde, sondern vor allem durch die gesellschaftlichen Bedingungen<br />

<strong>und</strong> Möglichkeiten. Newton habe eben - bei aller Genialität - die Relativitätstheorie<br />

nicht schaffen können: das war beim damals gegebenen Stand der Wissenschaft <strong>und</strong><br />

Technik unmöglich.<br />

Erkenntnis ist eine Relation zwischen Subjekt <strong>und</strong> Objekt, wobei als Objekt jener Teil<br />

der objektiven Realität aufzufassen ist, mit dem das Subjekt in eine praktische bzw. erkenntnismäßige<br />

Wechselwirkung getreten ist. Was Objekt wird, hängt also immer auch<br />

vom Grad der Naturbeherrschung, von der Entwicklung der Gesellschaft ab. Mehr noch,<br />

die sinnlich-gegebene Welt ist in gewissem Maße sogar Produkt des menschlichen Handelns,<br />

das die Natur immer weiter überformt. Praxis wird im <strong>Marxismus</strong> aufgefaßt als<br />

gegenständlich-materielle Tätigkeit; die materielle Beziehung zur Welt erscheint als die<br />

<strong>für</strong> den Menschen primäre, er selber als ein primär materielles Wesen. Daß er über Bewußtsein<br />

<strong>und</strong> Willen verfügt, beeinflusse seine Wechselwirkung mit den Naturdingen<br />

zwar wesentlich, ändere aber nichts an ihrem materiellen Charakter. 4<br />

Alle Formen der Tätigkeit basieren <strong>für</strong> den <strong>Marxismus</strong> letztlich auf dem Arbeitsprozeß.<br />

Das heißt nicht, daß man die Praxis schlicht auf materielle Produktionstätigkeit reduziert -<br />

man sieht vielmehr, daß dadurch der Mensch in ein bloß ökonomisches Wesen verwandelt<br />

würde, dessen Bewußtsein rein technischen Charakter hätte. Dem Menschen als<br />

1<br />

LW 14, S. 105. Vgl. zu diesem Kapitel insgesamt Konstantinow, S. 181-250.<br />

2<br />

Marxistische Philosophie, S. 502.<br />

3<br />

Vgl. Gr<strong>und</strong>risse, S. 14. Zur Subjekt-Objekt-Dialektik auch Lektorski 1968.<br />

4 S. Konstantinow, S. 188.

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