Marxismus und Anthroposophie - Institut für soziale Gegenwartsfragen
Marxismus und Anthroposophie - Institut für soziale Gegenwartsfragen
Marxismus und Anthroposophie - Institut für soziale Gegenwartsfragen
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
en integriert wäre. 26 Das gegenwärtige Rechtsleben ist durch die Hypertrophie des über<br />
seine Aufgaben hinausgreifenden Staates deformiert. Ihm gegenüber entwickeln die Bürger<br />
jene Abhängigkeitsmentalität, die die Rede vom „Vater Staat“ angemessen ausdrückt:<br />
So wird die Demokratie, die die Sphäre der Mündigkeit sein sollte, von vielfältigen Mechanismen<br />
der Entmündigung durchsetzt. Die zunehmende Verrechtlichung, den Bedürfnissen<br />
der aufgeblähten Administration angemessen, das freie Vereinbaren von Rechten<br />
<strong>und</strong> Pflichten dagegen erstickend, ist nicht im Sinne der Dreigliederung, die vielmehr der<br />
Allgemeinheit nur die Schaffung des allgemein-rechtlichen Rahmens <strong>für</strong> das Zusammenleben<br />
übertragen sehen möchte. D.h. auch, daß innerhalb des staatlich-rechtlichen Gliedes<br />
Zentralisierung nur soweit als nötig erstrebt wird, - Entscheidungen, von denen eine<br />
Basis betroffen ist, sollten auch soweit als möglich, d.h. soweit nicht übergeordnete Belange<br />
tangiert sind, von dieser Basis getroffen werden, wie es ja auch in der heutigen<br />
Bürgerinitiativen-Bewegung erstrebt wird. In jüngster Zeit wurde aus anthroposophischen<br />
Zusammenhängen heraus der Versuch gemacht, durch die Gründung von Bürgerforen<br />
einen stärkeren <strong>und</strong> kontinuierlicheren Einfluß der Bürger auf den politischen Prozeß zu<br />
ermöglichen. Im überschaubaren Zusammenhang kann am ehesten Mündigkeit praktiziert,<br />
Demokratie eingeübt werden. „Mehr Demokratie“ zu wagen, verlangt gerade die<br />
Stärkung der unteren Entscheidungsebenen. Nur durch die Dreigliederung wird man das<br />
richtige Verhältnis von Mehrheitsentscheidungen <strong>und</strong> Minderheitenschutz finden können:<br />
es ist z.B. nicht einzusehen, warum Lehrpläne allgemeingültig <strong>und</strong> damit <strong>für</strong> Minderheiten,<br />
die andere pädagogische Konzepte als die Mehrheit <strong>für</strong> richtig halten, verbindlich<br />
sein sollen. Die Alternative dazu ist jedoch nicht „Reprivatisierung“, sondern Tätigkeit<br />
freier Träger in gesellschaftlicher Verantwortung <strong>für</strong> öffentliche Aufgaben. Konkret würde<br />
das z.B. bedeuten, daß jedermann ein finanziell (z.B. über einen „Bildungsgutschein“)<br />
abgesichertes Recht auf Bildung hat, dieses aber in Einrichtungen seiner Wahl (oder bei<br />
Schülern der der Eltern) wahrnimmt. 27<br />
Die Frage nach den Grenzen der Wirksamkeit des Staates ist seit Steiners Tod durch<br />
die Erfahrung, daß der Rechtsstaat in den totalen Unrechtsstaat umschlagen kann, nur<br />
drängender geworden, vor allem durch das NS-Regime mit seiner Staatsvergottung <strong>und</strong><br />
seinen völkermörderischen Verbrechen gegen die Menschheit. Daß dieses Regime eine<br />
durch Integration <strong>und</strong> Terror erzwungene Scheinlegitimation aufrechterhielt, hat in der<br />
Folgezeit dazu geführt, die Frage nach Rechtsstaat <strong>und</strong> Demokratie präziser zu stellen<br />
<strong>und</strong> stets nach den realen Sicherungen <strong>und</strong> Garantien der Rechtsstaatlichkeit zu fragen.<br />
Steiner wußte nur zu gut, daß nicht einmal die formal gesicherte demokratische Rechtsförmigkeit<br />
schon reale Demokratie garantiert. Er stimmt F. Delaisis Feststellung zu, daß<br />
die parlamentarische Demokratie von finanzkapitalistischen Kreisen als spanische Wand,<br />
„hinter welcher sie ihre Ausbeutungsmethoden verbergen“, <strong>und</strong> als Verteidigungsmittel<br />
„gegen die etwaige Empörung des Volkes“ mißbraucht werden kann. 28 Steiner macht<br />
allerdings im Gegensatz zum <strong>Marxismus</strong> <strong>für</strong> eine reaktionäre Rolle des Staates nicht nur<br />
ökonomische Interessen verantwortlich, sondern sieht in Machtstreben <strong>und</strong> Herrschsucht<br />
relativ selbständige Motivkonstellationen, sosehr sich diese auch oft mit dem Motiv der<br />
Gewinnsucht verquicken mögen. Wo Marx allenfalls eine relative Selbständigkeit von<br />
Machtverhältnissen zugesteht, da anerkennt Steiner eine relative Selbständigkeit.<br />
Auch in bezug auf die Staatsformen muß man im Sinne Steiners phänomenologisch<br />
vorgehen, darf nicht etwa davon abstrahieren, wie diese oder jene Verhältnisse von den<br />
Menschen erlebt werden, darf sich nicht etwa den Blick auf die realen Selbst- <strong>und</strong> Mitbestimmungsmöglichkeiten<br />
durch deklaratorische Begriffsbildungen wie „Macht der Arbeiterklasse“<br />
oder „freiheitlich-demokratische Gr<strong>und</strong>ordnung“ verstellen lassen. Der das<br />
Bestehende zementierenden Selbstgerechtigkeit, die die Mängel des je eigenen Systems<br />
mit denen des anderen „legitimiert“, wird man so am ehesten entkommen. Solange die<br />
Auseinandersetzung zwischen Ost <strong>und</strong> West auf der Ebene von pauschalen Qualifizierungen<br />
sich bewegt, dergestalt, daß das westliche System eine Diktatur der 100 Monopolherren,<br />
das östliche eine des Politbüros sei <strong>und</strong> das jeweils eigene „millionenfach demokratischer“<br />
(Lenin) 29 als das jeweils andere, ist man von sachlichen Dialogen über gesellschaftliche<br />
Systemfragen noch weit entfernt, <strong>und</strong> damit auch von einem möglichen<br />
rationalen Diskurs über den Wahrheitskern der jeweils über die andere Seite gefällten<br />
pauschalen Urteile.<br />
26<br />
Vgl. GA 328, S. 92.<br />
27<br />
Näheres z.B. bei Leber 1978, S. 150ff.<br />
28<br />
GA 177, S. 247f.; vgl. GA 332 a, S. 19.<br />
29<br />
LW 28, S. 247.<br />
173