Marxismus und Anthroposophie - Institut für soziale Gegenwartsfragen
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Die materialistische Dialektik<br />
Wie kommt es zu der Verbindung zwischen Dialektik <strong>und</strong> Materialismus im <strong>Marxismus</strong>?<br />
Marx empfindet den Hegelschen Idealismus als mystische Hülle, aus der es den<br />
rationellen Kern der Dialektik erst herauszuschälen gilt. Auch wenn Hegels Dialektik nicht<br />
bloße Begriffskunst, sondern Theorie der Selbstbewegung der Wirklichkeit sein will, sieht<br />
man sie dennoch letztlich eingeschlossen in der Sphäre logischer Abstraktionen. Marx<br />
<strong>und</strong> Engels sind aber auch unzufrieden mit dem mechanischen Materialismus, der der<br />
Materie ihren sinnlichen Glanz raubt <strong>und</strong> unfähig ist zu jener historischen Betrachtungsweise,<br />
die bei Hegel so ausgebildet ist. Der alte Materialismus kam über diese Beschränktheit<br />
nicht hinaus, weil die Naturwissenschaft erst in jüngerer Zeit, durch Lyell,<br />
Darwin usw., von einem statischen Naturbild zum Gedanken der Historizität der Naturerscheinungen<br />
durchgedrungen war. Goethe <strong>und</strong> auf seinen Spuren wandelnde Naturforscher<br />
wie C. E. von Baer <strong>und</strong> L. Oken werden vom <strong>Marxismus</strong> als Vorbereiter dieses<br />
Durchbruchs gerühmt, jedoch ohne daß man der geistigen Seite ihres Naturbildes noch<br />
etwas abgewinnen könnte. 1<br />
Ein dialektischer Materialismus, eine materialistische Dialektik, sie vermeiden, so<br />
denkt man, sowohl die Schwächen der idealistischen Dialektik wie die des mechanischen,<br />
unhistorischen Materialismus; nur auf diesem Wege glaubt man zu einem wirklichkeitsgemäßen<br />
Weltbild <strong>und</strong> einer wirklichkeitsgemäßen Denkmethode gelangen zu<br />
können.<br />
„In unserer Zeit“, schreibt Lenin, „ist die Idee der Entwicklung, der Evolution, nahezu<br />
restlos in das gesellschaftliche Bewußtsein eingegangen, jedoch auf anderen Wegen,<br />
nicht über die Philosophie Hegels. In der Formulierung, die ihr Marx <strong>und</strong> Engels, ausgehend<br />
von Hegel, gegeben haben, ist diese Idee viel umfassender, viel inhaltsreicher als<br />
die landläufige Evolutionsidee.“ 2<br />
Indem man die Hegelsche Dialektik materialistisch umstülpte, die Ideen „wieder als<br />
Abbilder der wirklichen Dinge, statt die wirklichen Dinge als Abbilder dieser oder jener<br />
Stufe des absoluten Begriffs“ faßte, „reduzierte sich die Dialektik auf die Wissenschaft<br />
von den allgemeinen Gesetzen der Bewegung, sowohl der äußeren Welt wie des<br />
menschlichen Denkens - zwei Reihen von Gesetzen, die der Sache nach identisch, dem<br />
Ausdruck nach aber insofern verschieden sind, als der menschliche Kopf sie mit Bewußtsein<br />
anwenden kann, während sie in der Natur <strong>und</strong> bis jetzt auch größtenteils in der Menschengeschichte<br />
sich in unbewußter Weise, in der Form der äußeren Notwendigkeit,<br />
inmitten einer endlosen Reihe scheinbarer Zufälligkeiten durchsetzen. Damit aber wurde<br />
die Begriffsdialektik selbst nur der bewußte Reflex der dialektischen Bewegung der wirklichen<br />
Welt, <strong>und</strong> damit wurde die Hegelsche Dialektik auf den Kopf, oder vielmehr vom<br />
Kopf, auf dem sie stand, wieder auf die Füße gestellt.“ 3<br />
Es ist klar, daß unter diesen Bedingungen die Kategorien „Negation“, „Widerspruch“<br />
usw. zumindestens partiell einen anderen Sinn haben müssen als jenen, der ihnen in der<br />
Hegelschen Selbstbewegung des Begriffs zukam. Der Subjekt-Objekt-Dialektik der klassischen<br />
Philosophie wird die „objektive Dialektik“ vorgeschaltet, die Bewegung der Materie<br />
in Gegensätzen, von der die „subjektive Dialektik“ die Widerspiegelung in den Abbildern<br />
ist, die der menschliche Kopf von ihr entwirft. Der Widerspiegelungsbegriff soll den<br />
Agnostizismus abwenden: die Gesetze der subjektiven Dialektik sind in letzter Instanz<br />
durch den objektiven Inhalt, der widergespiegelt wird, determiniert. Darin besteht nun die<br />
Gr<strong>und</strong>lage <strong>für</strong> das Postulat der Einheit von Dialektik, Logik <strong>und</strong> Erkenntnistheorie. 4<br />
Dialektik ist sowohl allgemeine Theorie wie Methode des <strong>Marxismus</strong>. Sie ist die „Wissenschaft<br />
von den allgemeinsten Bewegungs- <strong>und</strong> Entwicklungsgesetzen der Natur, der<br />
Menschengesellschaft <strong>und</strong> des Denkens“, „Wissenschaft des Gesamtzusammenhangs“ 5 .<br />
Die Gesetze der Dialektik seien aus der „Geschichte der Natur wie der menschlichen<br />
Gesellschaft“ abstrahiert:<br />
1<br />
S. MEW 23, S. 27; MEW 20, S. 319f. Zum gesamten Kapitel vgl. z.B. Konstantinow, S. 118-180; Kopnin<br />
1970; Kumpf 1968.<br />
2<br />
Lenin, LW 21, S. 42.<br />
3<br />
Engels, MEW 21, S. 293.<br />
4<br />
Vgl. Engels MEW 20, S. 481.<br />
5<br />
Engels, MEW 20, S. 132, 307.