Marxismus und Anthroposophie - Institut für soziale Gegenwartsfragen
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Für Steiner sind die Mythen <strong>und</strong> Sagen der Völker nicht Ausgeburten der Volksphantasie,<br />
vielmehr die letzten Erinnerungen an die Schauungen eines instinktiven Hellsehens<br />
der menschlichen Frühgeschichte, an jenes vorreligiöse Bewußtsein, das noch im unmittelbaren<br />
Kontakt mit der geistigen Welt stand. In der Zeit des Verblassens dieser alten<br />
Spiritualität ist es noch möglich, daß einzelne Menschen einen solchen Kontakt aufrechterhalten:<br />
die verschiedenen „Mysterien“ sind die Orte seiner Pflege, ihre „Einweihungspraktiken“<br />
das Mittel, ihn herzustellen. Nicht umsonst geht Steiners erste Schrift über das<br />
Christentum von dessen Beziehung zum antiken Mystenenwesen aus. „In den vorchristlichen<br />
Mysterienreligionen“, schreibt Hemleben, „lebte ein Wissen“ um die ewige Wesenheit<br />
des Christus, „so daß sich die Prophetie auf den kommenden Messias, den zu erwartenden<br />
Weltenheiland herausbilden konnte.“ 28 Die Fleischwerdung des Logos macht den<br />
Wiederaufstieg in die geistige Welt, der in den Mysterien nur wenigen Auserwählten zugänglich<br />
war, tendenziell allen Menschen möglich. In der vollen Anerkennung der Tatsache<br />
dieser Fleischwerdung, seiner sinnlich-irdischen Präsenz in Palästina in der Gestalt<br />
des Jesus Christus liegt der entscheidende Unterschied zwischen den Hauptströmungen<br />
der Gnosis, zu denen <strong>Anthroposophie</strong> von klerikaler Seite oft gerechnet wurde, <strong>und</strong> den<br />
verschiedenen, ebenfalls von der Kirche vielfach verketzerten, Strömungen des esoterischen<br />
Christentums, der Strömungen der Templer, der Katharer <strong>und</strong> Albigenser, Manichäer,<br />
der Rosenkreuzer usw. 29<br />
Steiner sucht den Zugang zur Geschichtlichkeit der religiösen Vorstellungen nicht dadurch,<br />
daß er den übergeschichtlichen, den Ewigkeitskern in den Religionen überhaupt<br />
ableugnet. Bei den verschiedenen religiösen Erscheinungen, die er untersucht, werden<br />
durchaus sehr „reale“ gesellschaftliche Bedingungen einbezogen, so, wenn er den ursprünglichen<br />
Sinn des Totemismus von der gesellschaftlichen Arbeitsteilung in den Frühkulturen<br />
her deuten will. Trotzdem schließt er nicht etwa aus der buchstäblichen Bedeutung<br />
des Totemtiers kurz, alle Tiermotivik in Religion <strong>und</strong> Mythologie sei schlicht aus<br />
Vorbildern in der materiellen Produktion herzuleiten. So hat die Adler-Löwe-Stier-<br />
Symbolik nichts zu tun mit einer „religiös verzerrten“ Widerspiegelung von Rinderzucht,<br />
Löwenjagd <strong>und</strong> Vogelfang, <strong>und</strong> ebensowenig steht das Tier, „das hatte zwei Hörner wie<br />
ein Lamm“, welches in der Apokalypse geschildert wird, in irgendeiner wie immer entfernten<br />
Verbindung mit der Schafzucht. Steiner deutet es als verschlüsselten Hinweis auf das<br />
sogenannte Sonnen-Dämonium (Sorat), die Macht der schwarzen Magie, <strong>für</strong> die es ein<br />
altes okkultes Zeichen gebe, das in zwei „Hörner“ ausläuft. Platt <strong>und</strong> naiv sei auch die<br />
Deutung der Zahl 666 als Hinweis auf Nero als den Antichristen - eine Deutung, die von<br />
Engels übernommen wurde, um das Christentum „materialistisch ableiten“ zu können,<br />
wobei er wie viele andere meinte, die Weltuntergangserwartung der frühen Christen im<br />
materiell-buchstäblichen Sinne nehmen zu müssen. 30 Nach Steiner zielt die Zahl 666 der<br />
Apokalypse, die ein in der Mysteriensprache verfaßtes okkultistisches Dokument ist, auf<br />
den kritischen Punkt der Evolution, wenn die Erde den 6. Unterabschnitt des 6. Abschnitts<br />
ihres 6. Entwicklungszustandes durchmachen wird: Wenn die Erde sich wieder<br />
mit der Sonne vereinigt, wird Sorat als diejenige Wesenheit, die im Gegensatz zur Sonne<br />
steht, alles in den Abgr<strong>und</strong> reißen, was mit Kräften des Bösen ausgestattet ist, während<br />
Christus, das Lamm, diejenigen, die ihr Menschentum nicht verleugnet haben, mit sich<br />
vereinigen wird: die Apokalypse nennt das den Untergang „Babylons“ <strong>und</strong> die „Hochzeit<br />
des Lammes“. Die Metapher vom „anderen Tod“ deutet auf das drohende Schicksal der<br />
auf diese Weise aus dem normalen Evolutionsstrom herausfallenden Menschen. Dieses<br />
Schicksal kann man als furchtbar empfinden, es hat jedoch nicht den Charakter jener<br />
ewig-unabänderlichen Verdammnis, den ihm die kirchliche Lehre, die die Schilderung der<br />
Höllenqualen als Mittel der „Volkspädagogik“ einzusetzen pflegte, zumißt. Die Möglichkeit<br />
der Wiedereingliederung in den Strom des Werdens bleibt offen. Das entspricht einer<br />
Einsicht, die in der vielfach verkannten „manichäischen“ Strömung des Christentums<br />
immer gelebt hat, der Erkenntnis, daß letztes Ziel der Auseinandersetzung mit dem Bösen<br />
nicht seine Ausrottung <strong>und</strong> Vernichtung sein kann, sondern nur seine Verwandlung<br />
<strong>und</strong> Erlösung. 31<br />
Steiners Verhältnis zur Religion ist, wie man sieht, von jenem zeitgenössischen Bewußtsein,<br />
das allenfalls eine recht abstrakte Gottesvorstellung zur inneren Beruhigung<br />
28<br />
Hemleben 1977, S. 100.<br />
29<br />
Zu diesen Strömungen vgl. z.B. GA 93, Vortr. 4. u. 11.11.04. Speziell zu Christian Rosenkreutz GA 130,<br />
18.12.12, <strong>und</strong> GA 233a, 13.1.24.<br />
30<br />
Zum Totemismus GA 193, S. 33f.; Zur Apokalypse <strong>und</strong> dort besonders zum 13. Kap., 11, s. in GA 104.<br />
Engels, MEW 22, S. 468f.<br />
31<br />
S. in GA 104, zum Manichäismus in GA 93. Vgl. a. Schütze 1982, 86f.<br />
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