Marxismus und Anthroposophie - Institut für soziale Gegenwartsfragen
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schlossenes <strong>und</strong> Fließendes ist, das seine Grenzen immer weiter vorschiebt, entwickelt<br />
er dort, welcher Art die Übungen sind, die zum Erkennen höherer Welten führen. Man<br />
versenkt sich systematisch <strong>und</strong> wiederholt in Gedanken bzw. symbolische Bilder, die<br />
nicht in ihrer äußeren Bedeutung genommen werden, sondern die man als wirkende Kräfte<br />
in der Seele leben läßt. „Am fruchtbarsten sind diejenigen, welche sich in lebendiger<br />
Art zusammenfassend auf einen mannigfaltigen Inhalt beziehen. Man nehme als ein erfahrungsgemäß<br />
gutes Beispiel das, was Goethe als seine Idee von der ,Urpflanze‘ bezeichnet<br />
hat.“ Auch mathematische Gebilde sind besonders gut geeignet. „Die wahre<br />
Geistesforschung nimmt den ganzen Seelenapparat von Logik <strong>und</strong> Selbstbesonnenheit<br />
mit, wenn sie das Bewußtsein aus der sinnlichen in die übersinnliche Sphäre zu verlegen<br />
versucht. Deshalb kann auch nicht gegen sie vorgebracht werden, daß sie das rationelle<br />
Element der Erkenntnis unberücksichtigt lasse. Sie kann allerdings ihren Inhalt nicht nach<br />
der Wahrnehmung denkerisch in Begriffen bearbeiten, weil sie das rationelle Element bei<br />
ihrem Herausgehen aus der Sinnenwelt stets mitnimmt <strong>und</strong> es wie ein Skelett der übersinnlichen<br />
Erfahrung in aller übersinnlichen Wahrnehmung als einen integrierenden Bestandteil<br />
stets beibehält.“ 40<br />
Die Stufenleiter der höheren Erkenntnis führt vom reinen Denken über die Imagination<br />
zur Inspiration <strong>und</strong> Intuition. Die gewöhnliche Erkenntnisstufe, die zur Erlangung von<br />
Erkenntnissen höherer Welten überstiegen werden muß, ist die gegenständliche, „materielle“<br />
Erkenntnis: Hierhin gehört auch die gewöhnliche wissenschaftliche Erkenntnis,<br />
denn die „Wissenschaft arbeitet ja nur das gewöhnliche Erkennen feiner aus, macht es<br />
disziplinierter. Sie bewaffnet die Sinne durch Instrumente - Mikroskop, Fernrohr usw. -,<br />
um genauer zu sehen, was die unbewaffneten Sinne nicht sehen [...] Auch in der Anwendung<br />
des Denkens auf die Dinge <strong>und</strong> Tatsachen bleibt diese Wissenschaft bei dem stehen,<br />
was schon im alltäglichen Leben getrieben wird. Man ordnet die Gegenstände, beschreibt<br />
<strong>und</strong> vergleicht sie, man sucht sich ein Bild von ihrer Veränderung zu machen.“<br />
Die materielle Erkenntnis „bildet bei einem ges<strong>und</strong>en Menschen kein Bild <strong>und</strong> keinen<br />
Begriff, wenn ein äußerer Sinnesgegenstand nicht vorhanden ist. Das ,Ich‘ bleibt dann<br />
untätig.“ 41<br />
Das reine Denken ist der erste Schritt aus der materiellen Erkenntnis heraus: man benutzt<br />
die Begriffe nicht mehr instrumentell, sondern macht sich die Tätigkeit der Begriffsbildung<br />
in seelischer Beobachtung bewußt. Man findet so das Ich - im Unterschied zum<br />
gewöhnlichen leibgeb<strong>und</strong>enen Selbstgefühl - als geistige Realität, die sich im Denken<br />
darlebt. Die Erkenntnis höherer Welten muß aber nun das Ich aus sich herausführen <strong>und</strong><br />
mit Wesenhaftem in Berührung bringen, das gleichen Wirklichkeitsrang hat wie das Ich.<br />
So wie es im gewöhnlichen Sinne Phantastik ist, sich Gegenstände vorzustellen, wo keine<br />
sind, so ist es Phantastik, sich geistige Realität einzubilden, wo keine ist. Geistige<br />
Realität kleidet sich zunächst in innere Bilder. Die Fähigkeit, mit solchen Bildern umzugehen,<br />
ist die Kraft der Imagination. Dieses Umgehenkönnen bedeutet auch, sich bewußt<br />
zu sein, daß man es hier noch mit Bildern von Realität, nicht mit dieser selbst zu tun hat.<br />
Auf der zweiten Stufe, die Steiner als Inspiration bezeichnet, kommt man zu Erlebnissen,<br />
in denen Wesen der höheren Welten ihre Bedeutung unmittelbar aussprechen, die dritte<br />
Stufe, die „Intuition“, ist wirklicher Wesenstausch, Erkennen durch „Identisch-Werden“ mit<br />
dem zu Erkennenden, ohne das Eigenwesen zu verlieren. B. Wulff faßt die Charakterzüge<br />
der drei Stufen prägnant so zusammen: In der denkenden Selbstinnewerdung ergreift<br />
sich das Ich als schaffendes Wesen, in der Wesenserkenntnis offenbart sich ihm das<br />
Wesen als schaffende Bilder (Imaginationen); im „Fühlensbezug“ beeindruckt das Wesen<br />
den Erkennenden wie der Ton das Gehör (natürlich darf man dabei nicht an physisches<br />
Tönen denken; es ist nur ein Vergleich); im „Willensbezug“ erkennt sich das Ich als verwandt<br />
mit den hinter der physischen Natur wirkenden Willenskräften, den schöpferischen<br />
Wesenheiten der Welt. 42<br />
Als Bedingungen <strong>für</strong> eine geistige Schulung, die zu solchen ,höheren‘ Erkenntnissen<br />
führt, nennt Steiner Achtung <strong>und</strong> Bew<strong>und</strong>erung <strong>für</strong> Wahrheit <strong>und</strong> Erkenntnis, Entwicklung<br />
des inneren Lebens: „Schaffe dir Augenblicke innerer Ruhe <strong>und</strong> lerne in diesen Augenblicken<br />
das Wesentliche von dem Unwesentlichen unterscheiden.“ 43 Konzentration steht am<br />
Anfang; das Erüben eines kontrollierten Denkens an einfachen, nicht mit Erinnerungsvorstellungen<br />
durchsetzten, überschaubaren Themen. Dabei wird zum Erlebnis, daß die<br />
Autonomie des Bewußtseins zunächst geringer ist, als man gewöhnlich von sich an-<br />
40<br />
In GA 35, zit. nach Kugler 1978, S. 44, 47.<br />
41<br />
GA 12, S. 15ff. Dort auch das Folgende.<br />
42<br />
Wulf 1964, S. 42ff.<br />
43<br />
GA 10, S. 22.<br />
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