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Marxismus und Anthroposophie - Institut für soziale Gegenwartsfragen

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Gemeinschaft. Die entscheidende Größe <strong>für</strong> die Persönlichkeitsbildung sieht er im Kollektiv,<br />

wobei „Kollektiv“ <strong>für</strong> ihn allerdings keine herdenähnliche Gemeinschaft bedeutet, sondern<br />

ein Gebilde, „das in seiner Einmaligkeit des einzelnen ebenso abhängig ist wie dieser<br />

von der Einmaligkeit des anderen“. 8<br />

Verständlicherweise wurde dieser Aspekt von Makarenkos Lehre in der Stalin-Zeit <strong>und</strong><br />

teilweise auch danach eher unterbelichtet. Die starke Betonung von Fleiß <strong>und</strong> Disziplin<br />

überwiegt bis heute häufig gegenüber einer Erziehung zu Selbständigkeit <strong>und</strong> Selbstverantwortung.<br />

Da die marxistisch-leninistische Ideologie <strong>und</strong> ihre philosophischen Prämissen<br />

gr<strong>und</strong>legend sind <strong>und</strong> alle Fächer durchdringen, sind Sinnfragen immer schon vorentschieden,<br />

die eigene Urteilsbildung des Heranwachsenden wird zu wenig angeregt.<br />

Die Kinderorganisation bzw. der kommunistische Jugendverband sollen Mitverantwortung<br />

der Schüler einüben, aber binden diese zugleich von früh an in vorgegebene politischideologische<br />

Denkstrukturen ein. Tendenzen zu äußerer Anpassung bei innerer Gleichgültigkeit<br />

<strong>und</strong> Karrierementalität können die Folge sein. Die praktische Ausbildung betont<br />

stark die technische Seite, <strong>und</strong> die Körperbeherrschung wird von vornherein stark in die<br />

Richtung des Leistungssports orientiert. Das heißt allerdings nicht, daß künstlerische<br />

Aspekte gar nicht beachtet würden: Künstlerische Begabungen werden durchaus gezielt<br />

gefördert.<br />

Die marxistischen Parteien des Westens treten alle in dieser oder jener Form <strong>für</strong> eine<br />

bessere materielle Ausstattung der Bildungseinrichtungen ein, <strong>für</strong> eine „demokratische<br />

Bildungsreform“, die durch Gesamtschule <strong>und</strong> Gesamthochschule ein einheitliches Ausbildungssystem<br />

schafft. Sie kämpfen <strong>für</strong> materielle Sicherstellung der Chancengleichheit<br />

<strong>und</strong> <strong>für</strong> Mitbestimmung <strong>und</strong> „demokratische Kontrolle“ im Bildungsbereich, gegen die<br />

Unterordnung des Bildungswesens unter die Interessen der großen Konzerne. Das Verständnis<br />

<strong>für</strong> die Funktion freier Schulen ist sehr schwach entwickelt, ja vielfach besteht<br />

die Tendenz, in freien Schulen von vornherein „Privatschulen“ <strong>für</strong> eine begüterte Elite zu<br />

sehen, die nicht erhaltenswert sind. Diese Tendenz findet sich übrigens bis weit in die<br />

Kreise der Gewerkschaften <strong>und</strong> auch zahlreicher sozialdemokratischer Parteien hinein,<br />

weshalb es <strong>für</strong> die Anhänger eines freien Schulwesens äußerst wichtig wäre, die hier<br />

vorhandenen Informationsdefizite <strong>und</strong> Vorurteile abbauen zu helfen.<br />

Die marxistische Pädagogik will neben einem hohen fachlichen Standard bestimmte<br />

durch die marxistisch-leninistische Ideologie geprägte Bildungsinhalte vermitteln. Fortschrittliches<br />

Kulturerbe, sozialistische Moral, weltanschauliche Klarheit <strong>und</strong> Prinzipienfestigkeit<br />

sind Stichworte. Sieht man einmal von diesen Punkten ab, so sind die Unterschiede<br />

zu der in den kapitalistischen Ländern betriebenen Pädagogik oft geringer als die Unterschiede<br />

zwischen dieser <strong>und</strong> der Waldorfpädagogik. Die marxistische Pädagogik<br />

nimmt die Lerninhalte - von den politisch-ideologisch brisanten Themen einmal abgesehen<br />

- relativ unkritisch aus den verschieden Fachwissenschaften auf. Das didaktische<br />

Problem sieht man primär in der „Vermittlung“ dieses vorgegebenen Stoffs. Für die Bestimmung<br />

von Curricula ist ein vorgegebener „gesellschaftlicher Bedarf an Qualifikationen“<br />

maßgebend. Das Ideal ist, durch psychologisch abgesicherte Erziehungsmethoden<br />

voraussehbare Ergebnisse hervorbringen zu können; die Problematik eines solchen gewissermaßen<br />

„bewußtseinstechnologischen“ Ansatzes wird wenig gesehen.<br />

Dennoch darf man den Diskussionsstand über Fragen der Entwicklungspsychologie<br />

unter den Marxisten nicht unterschätzen: Es existieren eine Reihe bemerkenswerter Ansätze,<br />

die entwicklungsfähig sind <strong>und</strong> letztlich neue Denkwege eröffnen könnten. Hier soll<br />

nur kurz von der Situation der sowjetischen Psychologie gesprochen werden. Für deren<br />

Verständnis ist es zunächst wichtig zu sehen, wie in der Entwicklung der psychologischen<br />

Wissenschaft in der Sowjetunion die mechanisch-materialistische Konzeption von Pawlow<br />

<strong>und</strong> Bechterew durch eine weit differenziertere dialektisch-historisch-materialistische<br />

zurückgedrängt bzw. überlagert wurde, <strong>für</strong> die Namen wie Wygotski, Leontjew <strong>und</strong> Tubinstein<br />

stehen. Klaus Hozkamp <strong>und</strong> Volker Schurig haben diesen Prozeß eindrucksvoll<br />

nachgezeichnet. 9<br />

Die allgemein-theoretischen <strong>und</strong> methodologischen Prämissen der marxistischen<br />

Entwicklungspsychologie sind im Rahmen der vorangegangenen Darstellung, besonders<br />

in den Abschnitten über die Theorie des Bewußtseins <strong>und</strong> die Persönlichkeitstheorie,<br />

behandelt worden; diese Darstellung muß hier nicht wiederholt werden. Es wurde gezeigt,<br />

daß <strong>für</strong> den <strong>Marxismus</strong> eine entscheidende Kategorie die der Praxis ist. Wygotski<br />

betont in diesem Sinne die Aktivität des Menschen in der Subjekt-Objekt-Wechselwirkung<br />

199<br />

8 Nach Kirsch 290 f.<br />

9 In der Einführung zur dtsch. Ausgabe von Leontjew, Probleme der Entwicklung des Psychischen.

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