Marxismus und Anthroposophie - Institut für soziale Gegenwartsfragen
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gedanklicher Art. Aber nicht nur, wo die Handlung durch die einmal gegebene charakterologische<br />
Anlage im voraus bestimmt ist, auch da, wo sie quasi automatisch sich aus abstrakten,<br />
starren Moralprinzipien ergibt, herrscht noch keine Freiheit. Erst der aus Erkenntnis<br />
Handelnde, der „aus dem freien Spiel seiner Gestaltungskräfte Antrieb <strong>und</strong> Ziel in<br />
jedem einzelnen Fall phantasievoll erfinderisch schöpft“ 11 , entfaltet sein Wollen frei. Hier<br />
ist der Ideengehalt der Handlung in einer konkreten Situation das Entscheidende, Liebe<br />
zur Sache das Bewegende, es herrscht kein Zwang: die Handlung könnte genauso gut<br />
unterlassen werden. „Ethischen Individualismus“ nennt Steiner dieses Ausleben individueller<br />
Sittlichkeitsziele. 12<br />
Die so verstandenen Gesetze des Handelns, „die sittlichen Ideale“, sind „keine Abbilder<br />
[...], sondern ein nur in uns Vorhandenes. Sie sind unser freies Erzeugnis.“ Wir führen<br />
nur aus, was wir uns selbst als Norm in der konkreten Situation setzen. 13 Bei Handlungen<br />
dieses Typs kann nicht davon die Rede sein, daß sie durch unabhängig vom menschlichen<br />
Wollen <strong>und</strong> Vorstellen wirkende <strong>soziale</strong> Gesetze bestimmt würden.<br />
Weil das freie menschliche Handeln, im Gegensatz zum unfreien, durch nichts als sich<br />
selbst bedingt erscheint, sind <strong>für</strong> die Geschichtswissenschaft Steiner zufolge jene Erklärungsweisen,<br />
die <strong>für</strong> die anorganische <strong>und</strong> organische Natur Gültigkeit haben, unzureichend.<br />
Das Gegebene ist in der Geschichte nur das Material, mit dem die geschichtlichen<br />
Akteure sich auseinandersetzen. Sie finden auf die Zwänge, Bedrängnisse <strong>und</strong> materiellen<br />
Notwendigkeiten des gesellschaftlichen Lebens schöpferische, nicht von vornherein<br />
festliegende, originelle Antworten. Deshalb ist die Geschichte ein offener Prozeß, in dem<br />
die Sphäre der gewollten Wirkungen immer mehr erweitert wird. Die Geschichtswissenschaft<br />
„muß stets im Auge haben, daß die Ursachen zu den geschichtlichen Ereignissen<br />
in den individuellen Absichten, Plänen usw. der Menschen zu suchen sind. Alles Ableiten<br />
der historischen Tatsachen aus Plänen, die der Geschichte zugr<strong>und</strong>eliegen, ist ein Irrtum.“<br />
14 Das geht, ohne daß sie genannt würde, gegen die Hegelsche Geschichtskonstruktion<br />
<strong>und</strong> will betonen, daß die Geschichte nur den Sinn hat, den die Menschen ihr geben.<br />
Mit einem naiven Für-Wahr-Halten der Selbsteinschätzung der geschichtlichen Akteure<br />
hat es nichts zu tun. Die Geschichtswissenschaft muß durchaus die objektive Situationslogik<br />
berücksichtigen, aus der heraus die Individuen handeln, muß Quellen der Selbsttäuschung<br />
der Akteure des historischen Dramas aufspüren. Insofern schließen sich Ideologiekritik<br />
<strong>und</strong> <strong>Anthroposophie</strong> nicht aus, sondern ein. Ideologisch <strong>und</strong> falsch kann nach<br />
Steiner das Bewußtsein allerdings nur dann sein, wenn es die Beweggründe des Handelns<br />
nicht voll erkennend durchdringt. Wo dagegen aus einer aus Erkenntnis fließenden<br />
sittlichen Intuition gehandelt wird, hört alle Suche nach weiteren, den „wahren“ Beweggründen<br />
auf:<br />
Wo wir es mit demjenigen am Menschen zu tun haben, das frei ist von „typischer Denkungsart<br />
<strong>und</strong> gattungsmäßigem Wollen, da müssen wir aufhören, irgendwelche Begriffe<br />
aus unserem Geiste zu Hilfe zu nehmen, wenn wir sein Wesen verstehen wollen [...] beim<br />
Verstehen einer freien Individualität handelt es sich nur darum, deren Begriffe, nach denen<br />
sie sich ja selbst bestimmt, rein (ohne Vermischung mit eigenem Begriffsinhalt) herüberzunehmen<br />
in unseren Geist [...] So wie die freie Individualität sich freimacht von den<br />
Eigentümlichkeiten der Gattung, so muß das Erkennen sich freimachen von der Art, wie<br />
das Gattungsmäßige verstanden wird.“ 15 Der prinzipielle Ideologieverdacht, der den Unterschied<br />
in der Motivation freien <strong>und</strong> unfreien Handelns nicht beachtet, führt dagegen<br />
leicht zur Intoleranz: man nimmt fremde Ideen von vornherein deshalb nicht ernst, weil<br />
sie ja doch nur der Ausfluß <strong>und</strong>urchschauter oder gar bewußt verschleierter Interessengeb<strong>und</strong>enheit<br />
sein können.<br />
Interessenlage <strong>und</strong> Situationslogik vermögen durchaus in einem gewissen Umfang die<br />
Ähnlichkeit der Reaktion von Angehörigen einer bestimmten, durch gleichgerichtete Interessen<br />
verb<strong>und</strong>enen Menschengruppe in analogen Situationen verständlich zu machen.<br />
Es gibt durchaus eine Logik des Unternehmerverhaltens oder des Verhaltens der Arbeiterschaft.<br />
Diese Logiken können etwas Zwingendes haben, besonders da, wo die Angehörigen<br />
der Gruppe bloß einmal „bewährte“ Verhaltensmuster nachahmend wiederholen.<br />
Doch originelle Persönlichkeiten erobern sich auch immer wieder Spielräume gegenüber<br />
dem, was „man“ in einem bestimmten <strong>soziale</strong>n Zusammenhang „zu tun hat“. Ein Teil der<br />
11<br />
Witzenmann 1982, S. 69.<br />
12<br />
Vgl., auch im folgenden, in GA 4 ab S. 145.<br />
13<br />
GA 3, S. 113.<br />
14<br />
GA 1, S. 149.<br />
15<br />
GA 4, S. 241.<br />
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