06.01.2013 Aufrufe

Marxismus und Anthroposophie - Institut für soziale Gegenwartsfragen

Marxismus und Anthroposophie - Institut für soziale Gegenwartsfragen

Marxismus und Anthroposophie - Institut für soziale Gegenwartsfragen

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

Es existiert im realen Sozialismus einstweilen ein unaufgelöster Widerspruch zwischen<br />

der Schaffung einiger wesentlicher Bedingungen von Persönlichkeitsentfaltung,<br />

etwa in Gestalt eines barrierenlosen oder wenigstens barrierearmen Bildungswesens,<br />

<strong>und</strong> der Verweigerung anderer ebenso wichtiger in Gestalt der Freiheit des Bildungs- <strong>und</strong><br />

Geisteslebens. Immerhin: die Theorie sieht heute das individuelle Bewußtsein nicht nur<br />

von Milieuprägungen bestimmt, sondern auch von der Stufe der individuellen Entwicklung:<br />

der Arbeitsbegriff des <strong>Marxismus</strong>, demzufolge ein Subjekt in hohem Maße als das<br />

Produkt seiner eigenen Arbeit begriffen werden muß, ist hier ein Schlüssel, der möglicherweise<br />

das Schloß zu einem tieferen Verständnis des Problems des individuellen<br />

Bewußtseins öffnen kann. Das gesellschaftliche Bewußtsein ist zwar dem individuellen<br />

vorgegeben, aber man räumt ein, daß vom „Individuum ausgehende Gedanken <strong>und</strong> Überzeugungen<br />

zum Gemeingut der Gesellschaft <strong>und</strong> zur <strong>soziale</strong>n Kraft werden“ können 20<br />

Und das Denken, so sehr der Denkprozeß mit gesellschaftlich vorgegebenen Kategorien<br />

operiert, soll nur existieren „als das Einzeldenken von vielen Milliarden vergangener,<br />

gegenwärtiger <strong>und</strong> zukünftiger Menschen [...]“ 21<br />

„[...] das menschliche Wesen“, schrieb Marx, ist „kein dem einzelnen Individuum innewohnendes<br />

Abstraktum. In seiner Wirklichkeit ist es das ensemble der gesellschaftlichen<br />

Verhältnisse.“ 22 Aus dieser Bestimmung des Persönlichkeitsbegriffs soll jedoch nicht folgen,<br />

daß der <strong>Marxismus</strong> den Menschen ganz <strong>und</strong> gar auf Gesellschaft oder Gattung<br />

reduziert. Der einzelne Mensch scheint auch <strong>für</strong> Marx - jedenfalls an manchen Stellen<br />

seines Werks - ein „Eigener“ zu sein: ein „besonderes Individuum [...] <strong>und</strong> gerade seine<br />

Besonderheit macht ihn zu einem Individuum <strong>und</strong> wirklichen individuellen Gemeinwesen.“<br />

23<br />

Diese Besonderheit des Menschen stellt sich dar in den physischen <strong>und</strong> geistigen Anlagen,<br />

Fähigkeiten <strong>und</strong> Kräften <strong>und</strong> den Bedürfnissen des einzelnen. Das Prinzip des<br />

Kommunismus, von Marx in der Kritik des Lassalleschen Gothaer Programms formuliert<br />

als „Jedem nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen“, ist durchaus<br />

nicht gleichmacherisch, fetischisiert den Konsum sowenig wie es ihn asketisch verteufelt,<br />

wenn auch einem absoluten Individualismus Stirnerscher Prägung entgegengearbeitet<br />

wird <strong>und</strong> das Parteiprogramm der KPdSU jenes Prinzip -durch Erfahrung mit den im Sozialismus<br />

durchaus noch virulenten anti<strong>soziale</strong>n Trieben belehrt - dahingehend präzisiert,<br />

daß es sich um die vernünftigen Bedürfnisse reifer Individuen handele. 24<br />

Man leugnet also das Individuelle nicht, ja man versucht es zu verstehen: Die Individualität<br />

äußere sich in den natürlichen Anlagen <strong>und</strong> seelischen Eigenheiten des Menschen,<br />

den Besonderheiten seines Gedächtnisses <strong>und</strong> seiner Vorstellungswelt, seinen<br />

besonderen Geschicklichkeiten <strong>für</strong> diese oder jene Tätigkeit, den Besonderheiten seines<br />

Temperaments, seines Charakters, seiner Physiognomie, all seiner tätigen Lebensäußerungen.<br />

Das Individuum dürfe nicht auf die Summe seiner Eigenschaften reduziert werden,<br />

sondern müsse als selbstbewußtes Subjekt betrachtet werden, das sozial wollend<br />

<strong>und</strong> materiell tätig, zugleich aber sozial denkend <strong>und</strong> fühlend sei. Wie erklärt sich der<br />

<strong>Marxismus</strong> dieses Individuelle, z.B. die Unterschiede in den Fähigkeiten der Menschen?<br />

Man will hier weder die biologischen noch die <strong>soziale</strong>n Determinanten isoliert betrachten.<br />

Erbanlage <strong>und</strong> Milieu wirken zusammen: den Einfluß der ersteren erkennt man in der<br />

Tatsache, „daß bei gleichen Lebensbedingungen <strong>und</strong> gleicher Erziehung die individuellen<br />

Unterschiede in den Fähigkeiten recht beträchtlich sein können“ 25 den Einfluß des letzteren<br />

erblickt man darin, daß erst die Einwirkung der Gemeinschaft mit anderen Menschen<br />

Fähigkeiten zur Reife bringt: Die Sprachentwicklung ist nur das signifikanteste Beispiel,<br />

aber auch Eigenschaften wie Willensstärke <strong>und</strong> Zielstrebigkeit sind nicht einfach angeboren,<br />

sondern entwickeln sich in der Zusammenarbeit bzw. im Wettstreit mit anderen. Persönlichkeitstypen<br />

seien historisch <strong>und</strong> sozial geprägt, die Persönlichkeit verinnerliche<br />

jedoch in hohem Maße ihre <strong>soziale</strong> Rolle <strong>und</strong> entwickele in der Auseinandersetzung mit<br />

ihr den eigenen Verhaltensstil.<br />

Aus solchen Überlegungen leitet sich eine entschiedene Frontstellung gegen den Biologismus<br />

etwa sozialdarwinistischer Prägung ab, der Soziales auf Biologisches reduziert:<br />

Die Eigenschaften des Menschen entwickeln sich, haben historischen Charakter, sind<br />

keine biologischen Konstanten. Es gibt keine angeborene „Aggressivität“, keinen angebo-<br />

182<br />

20 Konstantinow, S. 473.<br />

21 Engels, MEW 20, S. 80.<br />

22 MEW 3, S. 6.<br />

23 MEW-Erg.bd. 1, S. 539.<br />

24 Programm der KPdSU von 1961, S. 62.<br />

25 Konstantinow, S. 515.

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!