Marxismus und Anthroposophie - Institut für soziale Gegenwartsfragen
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als solche aufzusuchen, die qualitativen Unterschiede auf bloß quantitative Verschiedenheiten<br />
identischer kleinster Teilchen zu reduzieren, so tut sie dasselbe, wie wenn sie statt<br />
Kirschen, Birnen, Äpfel das Obst als solches [...] zu sehen verlangt.“ 18 Und an anderer<br />
Stelle: „[...] die Materie als solche <strong>und</strong> die Bewegung als solche hat noch nie jemand<br />
gesehen oder sonst erfahren, sondern nur die verschiedenen, wirklich existierenden Stoffe<br />
<strong>und</strong> Bewegungsformen; Worte wie Materie <strong>und</strong> Bewegung sind nichts als Abkürzungen,<br />
in die wir die vielen verschiedenen Dinge zusammenfassen nach ihren gemeinsamen<br />
Eigenschaften. Die Materie <strong>und</strong> Bewegung kann also gar nicht anders erkannt werden<br />
als durch Untersuchung der einzelnen Stoffe <strong>und</strong> Bewegungsformen, <strong>und</strong> indem wir<br />
diese erkennen, erkennen wir pro tanto auch die Materie <strong>und</strong> Bewegung als solche.“ 19<br />
Noch strenger als Engels unterscheidet Lenin philosophischen <strong>und</strong> naturwissenschaftlichen<br />
Materiebegriff. Das Motiv da<strong>für</strong> ist deutlich: geht Engels noch davon aus, daß die<br />
Dinge als „körperlich existierende“ unter dem Materiebegriff zusammengefaßt werden, so<br />
macht die im vorigen Kapitel beschriebene Entwicklung der Physik eine Modifikation des<br />
Materiebegriffs nötig. In „Materialismus <strong>und</strong> Empiriokritizismus“ hält Lenin den Thesen<br />
vom Verschwinden der Materie <strong>und</strong> vom Bankrott des Materialismus entgegen, die angebliche<br />
Krise des Materialismus sei in Wahrheit bloß eine Krise des <strong>und</strong>ialektischen<br />
Materieverständnisses: „Die Materie ,verschwindet‘ heißt: Es verschwindet jene Grenze,<br />
bis zu welcher wir die Materie bisher kannten, es ,verschwinden‘ solche ,Eigenschaften‘<br />
der Materie, die früher als absolut, unveränderlich, ursprünglich gegolten haben [...] <strong>und</strong><br />
die sich nun als relativ, nur einigen Zuständen der Materie eigen erweisen. Denn die einzige<br />
Eigenschaft der Materie, an deren Anerkennung der philosophische Materialismus<br />
geb<strong>und</strong>en ist, ist die Eigenschaft, objektive Realität zu sein, außerhalb unseres Bewußtseins<br />
zu existieren.“ 20 Dieses Argument übersehen bis heute viele Kritiker des <strong>Marxismus</strong>,<br />
die davon sprechen, daß dieser sich auf einen durch die naturwissenschaftliche Entwicklung<br />
selbst überholten Materiebegriff stütze.<br />
Nur als erkenntnistheoretische Kategorien sollen Materie <strong>und</strong> Bewußtsein einen absoluten<br />
Gegensatz bilden, in der Wirklichkeit seien sie genetisch miteinander verb<strong>und</strong>en,<br />
das Bewußtsein das höchste Produkt der Entwicklung der Materie. Da es sich bei beiden<br />
Kategorien um die beiden ,höchsten Abstraktionen‘ handelt, die auf keinen Oberbegriff<br />
zurückgeführt werden können, sei es dem Wesen der Sache nach unmöglich, „eine andere<br />
Definition [...] zu geben, als die Feststellung, welcher von beiden <strong>für</strong> das Primäre genommen<br />
wird.“ 21 Lenin gießt den Materiebegriff in die berühmt gewordene Formel: „Die<br />
Materie ist eine philosophische Kategorie zur Bezeichnung der objektiven Realität, die<br />
dem Menschen in seinen Empfindungen gegeben ist, die von unseren Empfindungen<br />
kopiert, fotografiert, abgebildet wird <strong>und</strong> unabhängig von ihnen existiert.“ 22<br />
Die Leninsche Definition scheint eine ganze Reihe von Vorteilen zu bieten: Sie rettet<br />
erst einmal den Materiebegriff vor dem Verschwinden der Materie des Demokrit: Im Sinne<br />
einer „objektiven Realität“ können auch die Atome der neueren Physik noch als materielle<br />
Entitäten gedeutet werden. Die Gefahr, daß Materie sich in Energie auflöst, ist durch<br />
definitorische Festsetzung gebannt: Energie ist objektiv-real, also materiell! Ausdrücklich<br />
wird gesagt, man dürfe als Materie nicht bloß Körper bezeichnen, die endliche Ruhemasse<br />
besitzen, auch Nicht-Stoffliches, etwa das elektromagnetische Feld sei Materie. Stoff<br />
<strong>und</strong> Strahlung, Stoff <strong>und</strong> Feld durchdrängen sich <strong>und</strong> gingen ineinander über. Diese These<br />
von den nichtstofflichen Materieformen wird dann allerdings nicht konsequent festgehalten,<br />
wenn gegen Wilhelm Ostwalds Lehre von der reinen Energie als Gr<strong>und</strong>lage<br />
aller Veränderungen eingewandt wird, losgelöst von der Materie verwandle sich die Energie<br />
in ein immaterielles Etwas, tatsächlich sei jedoch Energie eine Eigenschaft der<br />
Materie, existiere nicht losgelöst von ihr <strong>und</strong> trete immer gemeinsam mit anderen Eigenschaften<br />
materieller Körper in Erscheinung. Überhaupt sei es verkehrt, die Gegenstände<br />
als Komplexe von Eigenschaften zu betrachten, die Materie nicht als Träger, sondern<br />
bloß als Summe ihrer Eigenschaften zu nehmen. Denn Eigenschaften existierten nicht an<br />
sich, sondern immer als Eigenschaften bestimmter materieller Objekte. Zwar soll die einheitliche<br />
Materie nur in der Mannigfaltigkeit ihrer unendlich vielen, qualitativ unterschiedlichen<br />
Entwicklungsformen existieren <strong>und</strong> nicht mehr als unveränderliche Substanz gelten.<br />
Aber dennoch: man muß sie „in dem Sinne gleichsam als Substanz“ anerkennen, als „sie<br />
(<strong>und</strong> nicht das Bewußtsein) die einzige allgemeine Gr<strong>und</strong>lage <strong>für</strong> die verschiedenen Ei-<br />
35<br />
18 a.a.O., 519.<br />
19 a.a.O., 503.<br />
20 LW 14, S. 260.<br />
21 a.a.O., 141.<br />
22 a.a.O., 124.