Marxismus und Anthroposophie - Institut für soziale Gegenwartsfragen
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che ihm die Gestalt eines Kampfs von Wertungen geben, so ist er immer zugleich ein<br />
Kampf um höhere Vernunft, um höhere Moral, um vollkommenere Kultur. Aller Klassenkampf<br />
ist Kulturkampf, ist Geistesbewegung.“ 11 Man wird das Wort „immer“ - bedenkend,<br />
was etwa in der Stalin-Ära mit der These von der Verschärfung des Klassenkampfes an<br />
Praxis gerechtfertigt wurde - nicht akzeptieren können. Aber akzeptieren muß man, daß<br />
das Ringen um gerechtere Verhältnisse unter den Bedingungen des Widerstands retardierender<br />
Kräfte, die sich an ihre Privilegien klammern <strong>und</strong> die keineswegs brutalen Klassenkampf<br />
scheuen, den Konflikt mit diesen nicht gut vermeiden kann:<br />
Man hat dann keine Wahl als den Angriff anzunehmen oder zurückzuweichen. Sehr<br />
wohl hat man indes die Wahl der Mittel: Und die Arbeiterbewegung darf die höhere Moral<br />
nicht der Logik des Klassenkampfes opfern, wenn sie nicht den moralischen Sinn ihres<br />
Kampfs <strong>für</strong> eine gerechtere Gesellschaftsordnung negieren will. Nur wer die Existenz<br />
einer geistigen Welt <strong>für</strong> eine Ausgeburt der Phantasie hält, wird sich nicht entscheiden<br />
wollen, ob Unrecht leiden besser sei als Unrecht tun <strong>und</strong> sich da<strong>für</strong> blind machen, daß<br />
Gewalt immer wieder nur Gewalt zeugt.<br />
Ob Steiner Adlers Formel akzeptiert hätte, erscheint mehr als fraglich. Er hätte vermutlich<br />
den Einwand gemacht, wenn man schon die höhere Vernunft vertreten wolle,<br />
dann solle man den Arbeitern nicht bloß ein Klassenbewußtsein, sondern ein allgemeinmenschliches<br />
Bewußtsein bringen, sie nicht nur hinsichtlich ihrer ökonomischen Lage<br />
agitieren, sondern sie in ihren geistigen Bedürfnissen, wie immer diese zugeschüttet seien,<br />
ernst nehmen. Denn darin liege die Not der Arbeiterklasse, daß sie in einer Lage sei,<br />
in der sich die Arbeiter in ihrem Menschentum nicht ernst genommen fühlen können.<br />
Dieses Übel nur von der Ökonomie her kurieren zu wollen, erscheint Steiner absurd. Es<br />
ist vor allem auch eine Bildungsfrage. Für deren Lösung sind ökonomische Voraussetzungen<br />
wichtig, aus denen sie sich jedoch nicht von selbst ergibt. Bildungsfragen sind<br />
immer auch Fragen der Bildungsinhalte <strong>und</strong> der Gestaltungsprinzipien des Kulturlebens.<br />
Wenn Steiner das Problem der Menschenwürde des Arbeiters in den Vordergr<strong>und</strong> stellt,<br />
dann tut er das freilich nicht in idealistischer Manier, unter Ausklammerung der Frage<br />
nach menschengemäßer Ernährung, Wohnung <strong>und</strong> Kleidung, Problemen, zu deren Lösung<br />
er in Landwirtschaft, Architektur <strong>und</strong> Volkspädagogik durchaus konkrete <strong>und</strong> vielfältige<br />
Anregungen zu geben wußte.<br />
Für Steiner ist die Debatte, ob die These von der Notwendigkeit des Sozialismus mit<br />
der physischen Verelendung stehe <strong>und</strong> falle, weitgehend irrelevant. Ihre Relevanz <strong>für</strong> die<br />
innermarxistische Diskussion erhielt sie, was häufig übersehen wird, nur durch die materialistische<br />
These von der Geschichte als naturgeschichtlichem Prozeß. Erwies sich die<br />
Verelendung als zu schwach, um die Arbeiter in die Revolution zu zwingen, so zerrann<br />
die Hoffnung auf den Sozialismus oder mußte - wenigstens stillschweigend - auf Zusatzannahmen<br />
gestützt werden. Daß bei Lenin der subjektive Faktor <strong>und</strong> damit die Partei<br />
größere Bedeutung gewinnt, das Klassenbewußtsein den Arbeitern von außen gebracht<br />
werden muß, hängt mit dieser Problemlage zusammen, wenn auch die Unterschiede<br />
zwischen Marx <strong>und</strong> Lenin in der Parteifrage nicht überschätzt werden dürfen.<br />
Die Schwächen der marxistischen Klassentheorie sind im anthroposophischen Verständnis<br />
keine Gründe <strong>für</strong> die Apologie des Bestehenden, die aus ihnen häufig abzuleiten<br />
versucht wird. G. A. Wetter z.B. behauptet, das im Westen bestehende parlamentarische<br />
System mit seinem Interessenausgleich zwischen freien Gewerkschaften <strong>und</strong> Unternehmerverbänden<br />
<strong>und</strong> seinen Möglichkeiten zum Volkskapitalismus durch Vermögensbildung<br />
in Arbeitnehmerhand mache Klassenkampf <strong>und</strong> Systemveränderung überflüssig. 12<br />
Diese Art Kritik ist nicht im Sinne der von Steiner vorgetragenen Überlegungen, der immer<br />
wieder darauf hinweist, wie hinter der Fassade der demokratischen Verfahren von -<br />
durchaus aristokratisch-elitär organisierten - Minderheiten die Fäden gezogen werden<br />
können, wie formale Demokratie <strong>und</strong> Herrschaft des Großkapitals prächtig koexistieren<br />
können. Er weist darauf hin, wie der Freiheitsbegriff, der dem westlichen Demokratieverständnis<br />
zugr<strong>und</strong>eliegt, primär einer der Freiheit des ökonomischen Handelns ist, nicht<br />
einer der Freiheit des Geisteslebens: eine Ideologie des Privateigentums, nicht ein Konzept,<br />
das Freiheit in ihrem menschlichen Kern erfaßt. 13 Tarifauseinandersetzungen des<br />
heutigen Typs - auf die natürlich unter den heutigen Bedingungen nicht verzichtet werden<br />
kann - <strong>und</strong> auch „konzertierte Aktionen“ jeglicher Art sind noch keine Überwindung des<br />
Kapitalismus, sondern seine <strong>Institut</strong>ionalisierung. Sie nötigen den Gewerkschaften die<br />
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11 Adler, in Sandkühler/Vega (Hg.), S. 179f.<br />
12 Wetter 1977, S. 225ff.<br />
13 Vgl. etwa GA 202, Vortr. 11. 12. 20.