Marxismus und Anthroposophie - Institut für soziale Gegenwartsfragen
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ung, auf die sie einmal bezogen waren, angepaßten Form. Die Vorstellungen, nicht die<br />
Begriffe <strong>und</strong> Wahrnehmungen, sind als subjektive Repräsentanten der Wirklichkeit ansprechbar.<br />
6. In der Vorstellungsbildung wird Wahrnehmungsinhalt begrifflich durchdrungen <strong>und</strong><br />
Begriffsinhalt mit Wahrnehmungsinhalt gesättigt. In diesem Wechselspiel der Durchdringung<br />
erarbeitet sich der Menschen seinen jeweiligen Wirklichkeitsanteil. Durch sein produktives<br />
Verhältnis zur Wirklichkeit ist er zur Freiheit fähig, indem er aus Erkenntnis handelt.<br />
49 Wahre Gemeinschaftlichkeit entsteht <strong>für</strong> Steiner aus der Wesensbegegnung freier<br />
Persönlichkeiten, nicht aber aus der Einschmelzung des Individuellen in ein Abstrakt-<br />
Allgemeines. So mündet die phänomenologische Erkenntniswissenschaft letztlich auch in<br />
die Wissenschaft von der „Freiheitsgestalt des <strong>soziale</strong>n Organismus“.<br />
7. In der mangelnden Beobachtung des Erkenntnisvorgangs berühren sich die Extreme<br />
von Materialismus <strong>und</strong> subjektiv getöntem Phänomenalismus. Gerade hier lag der<br />
Ansatzpunkt <strong>für</strong> Bogdanows Versuch, <strong>Marxismus</strong> <strong>und</strong> Empiriomonismus zu kombinieren.<br />
Der Materialismus verfehlt die Strukturbildung <strong>und</strong> nimmt deshalb die Bildekräfte als Eigenschaft<br />
der Materie, statt die Materie als Resultat gestaltender Kräfte zu betrachten.<br />
Eine Erkenntnistheorie in der Art von Mach <strong>und</strong> Avenarius dagegen ist unfähig, innerhalb<br />
des Gewebes der Qualitäten qualitativ zu differenzieren, zum Beispiel zwischen materiellen<br />
<strong>und</strong> geistigen Vorgängen. Ihr zerflattert daher beides: die Gegenständlichkeit <strong>und</strong> das<br />
Ich, das bei Mach, wie Rudolf Steiner sagt, „zum mythischen Begriff“ wird. 50 Mach denkt<br />
das Empfinden wie ein Empf<strong>und</strong>enes, <strong>und</strong> Avenarius kann diesem Empf<strong>und</strong>enen mit<br />
dem Wörtchen „Zentralglied“ seinen Ich-Charakter nicht wiedergeben.<br />
Für Steiner ist die Welt sich metamorphosierender Wahrnehmungsinhalt ohne<br />
zugr<strong>und</strong>e liegende Materie im Sinne letzter Weltelemente. 51 Aber <strong>für</strong> ihn bleibt Materie im<br />
Erfahrungsganzen ein spezifischer Sektor. Wir werden in Steiners Sinne immer da von<br />
Materialität sprechen müssen, wo das Phänomen der Raumerfüllung auftritt, nicht dagegen<br />
da, wo unräumliche Formierungen auftreten wie in der menschlichen Gefühlswelt.<br />
Materie ist <strong>für</strong> Steiner durch ihre Qualität, nicht aber, wie Lenin meinte, Qualität durch ihre<br />
Materie zu bestimmen. Zwischen Empfindungsakt <strong>und</strong> Empfindungsinhalt vermochten<br />
weder Empiriomonisten noch dialektische Materialisten angemessen zu differenzieren.<br />
Der <strong>Marxismus</strong> versucht, die Qualität in ihrer Nichtreduzierbarkeit festzuhalten, gelangt<br />
aber nicht zu einer Erkenntnismethode, die im gleichen Sinne wie die anthroposophische<br />
auf das Erfassen der Qualitäten in concreto abzielt. 52<br />
Gegenüber dem Mißverständnis Eduard von Hartmanns, Steiners Philosophie müsse<br />
Phänomenalismus, absoluten Illusionismus <strong>und</strong> Agnostizismus nach sich ziehen, argumentierte<br />
dieser in der folgenden, durch unseren Vergleich erhärtbaren Weise: Es werde<br />
bei ihm der absolute Phänomenalismus Humescher Art überw<strong>und</strong>en „durch den Versuch<br />
einer solchen Kennzeichnung des Denkens, daß durch dieses dem sinnenfälligen Weltbilde<br />
sein phänomenaler Charakter benommen <strong>und</strong> es zur Erscheinung einer objektiven<br />
Welt gemacht wird; Berkeleys subjektiver Phänomenalismus verliert ... seine Berechtigung,<br />
indem gezeigt wird, daß im Denken der Mensch mit der objektiven Welt zusammenwächst<br />
<strong>und</strong> daher die Behauptung allen Sinn verliert, die Weltphänomene seien außerhalb<br />
des Wahrgenommenwerdens nicht vorhanden“. 53 Im Gegensatz zur Philosophie<br />
Hegels nimmt Steiner das reine Denken nicht als ein Letztes, sondern als einen Anfang. 54<br />
Denn in diesem reinen Denken kann das Ich als reine Aktualität oder Wollen (Kraft) erlebt<br />
<strong>und</strong> damit ein erstes Übersinnlich-Reales wahrgenommen werden. Steiner erklärt, daß<br />
man durch Übung „das Wahrnehmungsorgan, das man am Erleben der eigenen Denktätigkeit<br />
ausgebildet hat, auch dann bewahren“ kann, „wenn man das Eigenerleben seiner<br />
Denktätigkeit auslöscht“ <strong>und</strong> damit die Möglichkeit gewinnt, die kraftenden Gesetze, die<br />
Universalia in rebus oder den Logos der Phänomene „wie durch ein geistiges Tasterlebnis<br />
wahrzunehmen <strong>und</strong> dann durch begriffliche Bestimmungen in einen gesetzmäßigen<br />
Zusammenhang zu bringen“. 55 Durch Entwicklung des Denkens wird somit der Abläh-<br />
49<br />
Die „Entwirklichung“ durch die menschliche Organisation ist also gerade dasjenige, was Freiheit möglich<br />
macht. Vgl. Strawe, a.a.O., S. 48ff.<br />
50<br />
Vom Menschenrätsel, GA 20, Taschenbuchausgabe Dornach 1984, S. 152.<br />
51<br />
Einleitungen zu Goethes Naturwissenschaftlichen Schriften, a.a.O., S. 197f.<br />
52<br />
Vgl. Strawe, a.a.O., Teil I.<br />
53<br />
Steiner, Die Geisteswissenschaft als <strong>Anthroposophie</strong> <strong>und</strong> die zeitgenössische Erkenntnistheorie. Persönlich-Unpersönliches.<br />
In: Philosophie <strong>und</strong> <strong>Anthroposophie</strong>. Gesammelte Aufsätze 1904-1923, GA 35, Dornach<br />
1984, S. 307ff. Das Zitat findet sich auf S. 328f.<br />
54<br />
Ebenda.<br />
222<br />
55 So formuliert Schneider, a.a.O., S. 42.