Marxismus und Anthroposophie - Institut für soziale Gegenwartsfragen
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71<br />
II. Teil: Dialektik, Logik,<br />
Erkenntnistheorie<br />
Geschichtliches<br />
Bei der Frage der philosophischen Dialektik geht es nicht zuletzt darum, ob <strong>und</strong> wie<br />
das menschliche Denken Leben <strong>und</strong> Bewegung erfassen kann. Sind diese unerkennbar<br />
oder allenfalls einem ahnenden Fühlen zugänglich, oder gibt es eine Denkart, die fähig<br />
ist, in den Strom des Werdens einzutauchen? Das Verstandesdenken ist dazu nicht in<br />
der Lage, darin herrscht Einigkeit zwischen <strong>Marxismus</strong> <strong>und</strong> <strong>Anthroposophie</strong>. So notwendig<br />
es ist, um den Begriffen Bestimmtheit <strong>und</strong> Kontur zu geben, man kommt auf diese<br />
Weise doch nur zum Operieren mit „Abstraktionen nach einem streng vorgegebenen<br />
Schema, einer Schablone [...]“; der Verstand „zerlegt das Ganze, Einheitliche in einander<br />
ausschließende Gegensätze“. Es gibt jedoch ein schöpferisches Denkvermögen, die<br />
Vernunft, die imstande ist, die Begriffe „beweglich, flexibel, plastisch, miteinander verb<strong>und</strong>en<br />
<strong>und</strong> ineinander übergehend“ zu bilden. So liest es sich in dem Buch „Gr<strong>und</strong>lagen<br />
der marxistisch-leninistischen Philosophie“. 1 Steiner, obwohl er nicht den Terminus Dialektik<br />
zur Charakterisierung seiner eigenen Anschauungsweise verwendet, äußert sich in<br />
diesem Punkt ganz ähnlich: Der Verstand unterscheide die Dinge voneinander, die Vernunft<br />
verbinde „die vom Verstand gewonnenen isolierten Begriffe zu einem einheitlichen<br />
Bilde. Das Werden, das Entstehen ist ein ewiger Fluß, in dem die Dinge, von denen der<br />
Verstand isolierte Begriffe entwirft, entstehen <strong>und</strong> vergehen. Der Verstand kann daher<br />
nur die gewordenen Dinge erfassen, das Werden ist Gegenstand der Vernunft, deren<br />
Obliegenheit es ist, die Begriffe in den Fluß zu bringen, der dem Werden der Wirklichkeit<br />
entspricht.“ 2<br />
Die genannten Fragen haben seit je die Denker bewegt, <strong>und</strong> im Kontext der Geschichte<br />
von Dialektik, Logik <strong>und</strong> Erkenntnistheorie ergeben sich zahlreiche Gesichtspunkte <strong>für</strong><br />
den Vergleich zwischen marxistischem <strong>und</strong> anthroposophischem Ansatz.<br />
Mit den „Anfängen des Nachdenkens über das Denken vom Kosmos“ 3 in der antiken<br />
Philosophie, setzt das Bemühen um Selbstverständigung des wissenschaftlichen Denkens<br />
über das Geschäft ein, das es betreibt: das Erkennen. Erkenntnis wird philosophiegeschichtlich<br />
im selben Maße immer mehr zum Problem, in dem das Subjekt die Gedanken<br />
als seine eigenen Hervorbringungen erlebt <strong>und</strong> sich damit die Frage nach dem Verhältnis<br />
von Denken <strong>und</strong> Wirklichkeit immer schärfer stellt. Eben damit hängt auch zusammen<br />
die bewußte Beschäftigung mit den Problemen der Logik, d.h. mit den Formen<br />
<strong>und</strong> Methoden des richtigen Denkens. Man fragt, wie die Geltung der von der Logik aufgewiesenen<br />
Kategorien <strong>und</strong> Denkgesetze begründet werden kann, in welchem Verhältnis<br />
Denkgesetze <strong>und</strong> Seinsgesetze zueinander stehen. Das Verhältnis von Sinneswahrnehmung<br />
<strong>und</strong> Denken, Subjekt <strong>und</strong> Objekt in der Erkenntnis werden hinterfragt, man sucht<br />
nach einem sicheren Kriterium der Wahrheit des Wissens.<br />
Für ein vorwissenschaftliches Bewußtsein ist Wahrheit unproblematisch gegeben -<br />
durch Herkommen, religiöse <strong>und</strong> sittliche Autorität. Nun muß sie errungen werden: durch<br />
widersprechende Meinungen <strong>und</strong> die Überwindung dieser Widersprüche im Gespräch<br />
kommt sie prozeßhaft zustande. Wo dieses Vorgehen Methode hat, wird es zur „Unterredungskunst“<br />
(Dialektik). Unter dem Gesichtspunkt des Denken-Sein-Verhältnisses entsteht<br />
in bezug auf solche Dialektik die Frage, ob die Bewegung des Denkens in Gegensätzen<br />
<strong>und</strong> ihrer Vermittlung (Synthesis) ein f<strong>und</strong>amentum in re habe, ob also die Gegensätze<br />
nur Aspekte der Betrachtung oder auch Seiten der betrachteten Sache selbst seien<br />
<strong>und</strong> ob die Bewegung der Entstehung, Zuspitzung <strong>und</strong> Auflösung von Widersprüchen nur<br />
ein subjektives Erkenntnisgesetz oder der Ausdruck des Werdens der Wirklichkeit selbst<br />
ist.<br />
1<br />
Konstantinow 1972, S. 233.<br />
2<br />
Anm. Steiners zu Goethes Sprüche in Prosa“, dort S. 42. S. a. GA 2, S. 52ff.<br />
3<br />
Vorländer 1, S. 24ff. Vgl. i. f. a. Vorländer 1963-78, Störig 1979, Erdmann 1976 u. 78, Klaus/Buhr 269ff.,<br />
356ff.