Marxismus und Anthroposophie - Institut für soziale Gegenwartsfragen
Marxismus und Anthroposophie - Institut für soziale Gegenwartsfragen
Marxismus und Anthroposophie - Institut für soziale Gegenwartsfragen
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
weilen sicher nicht weniger Anpassungsdruck erzeugt als die mittelalterliche Kirche.<br />
Wenn die Religion sich als zählebiger erweist, als angenommen, ihr prognostiziertes<br />
Absterben auf sich warten läßt, so erklärt man sich das mit den vorhandenen Resten<br />
überlebter Produktionsweisen, aber auch mit der existentiellen Erschütterung <strong>für</strong> viele<br />
Menschen durch die Kriege <strong>und</strong> Katastrophen unseres Jahrh<strong>und</strong>erts.<br />
Die Wissenschaft sieht man zur Religion im unversöhnlichen Gegensatz. Die Philosophie<br />
allerdings, in der sich der Logos vom Mythos emanzipiert, sei in ihren idealistischen<br />
Formen noch vielfach mit der Religion verb<strong>und</strong>en, die marxistische Philosophie sei die<br />
erste konsequent wissenschaftliche. Die Herausbildung der Einzelwissenschaften sieht<br />
man als Moment im Prozeß der gesellschaftlichen Arbeitsteilung, Wissenschaft ist letztlich<br />
bedingt durch praktische Bedürfnisse, vor allem der Produktion. „Das Entstehen von<br />
Astronomie, Mathematik <strong>und</strong> Mechanik wurde durch die Bedürfnisse der künstlichen Bewässerung,<br />
der Seefahrt, der Errichtung großer öffentlicher Bauwerke, der Pyramiden,<br />
Tempel usw. hervorgerufen“; Handel <strong>und</strong> Steuerwesen stimulierten die Entwicklung der<br />
Arithmetik. 11 Die Wissenschaftsentwicklung macht zwei große Schübe, in der Antike <strong>und</strong><br />
der Renaissance, durch. Die moderne experimentelle Naturwissenschaft <strong>und</strong> die moderne<br />
industrielle Entwicklung sind miteinander untrennbar verb<strong>und</strong>en: Dampfmaschine <strong>und</strong><br />
Wärmetheorie, mechanischer Webstuhl <strong>und</strong> Mechanik, Stromerzeugung <strong>und</strong> Elektrizitätslehre,<br />
Bergbau <strong>und</strong> Geologie usw. In diesem Wechselverhältnis soll die Produktivkraft-<br />
Evolution gegenüber der Wissenschafts-Evolution letztlich primär sein, aber die Wissenschaft,<br />
die jetzt bewußt technisch eingesetzt wird, soll auch revolutionierend auf die Produktion<br />
zurückwirken.<br />
Die relative Selbständigkeit der Wissenschaft, wie die aller gesellschaftlichen Bewußtseinsformen,<br />
sieht man darin begründet, daß der wissenschaftlich Tätige unmittelbar am<br />
vorliegenden Gedanken- <strong>und</strong> Vorstellungsmaterial anknüpft <strong>und</strong> sich der Wirklichkeit über<br />
dieses Medium nähert, nicht unmittelbar. Wissenschaft nach einer vordergründigen<br />
Staatsraison zu reglementieren, widerspreche dieser relativen Eigengesetzlichkeit: „Ohne<br />
Meinungsstreit <strong>und</strong> Freiheit der Kritik läuft die Wissenschaft Gefahr, dogmatisch zu werden,<br />
auf der Stelle zu treten.“ 12 - Man weiß nach der Stalin-Ära, wovon man da redet. Die<br />
heutige Rolle der Wissenschaft - schon quantitativ am explosiven Wachstum des Bildungswesens<br />
ablesbar - berechtigt dazu, von einer wissenschaftlich-technischen Revolution<br />
zu sprechen. In ihr wird die Wissenschaft zur „unmittelbaren Produktivkraft“, denn die<br />
Technik ist „vergegenständlichte Wissenskraft“. 13 Automatisierung, EDV <strong>und</strong> die Ausnutzung<br />
neuer Energieträger charakterisieren diese Revolution, die sich vor unsern Augen<br />
abspielt. Mit ihren <strong>soziale</strong>n Folgen könne der Kapitalismus nicht fertig werden, er pervertiere<br />
die neuen Produktivkräfte immer wieder zu Destruktivkräften. Nur die sozialistische<br />
Planwirtschaft kann, davon gibt man sich überzeugt, den wissenschaftlich-technischen<br />
Fortschritt gezielt <strong>für</strong> die Bedürfnisse der werktätigen Massen nutzen; der wissenschaftlich-technische<br />
erfordert den <strong>soziale</strong>n Fortschritt. Im Kommunismus wird die Wissenschaft,<br />
so glaubt man, den entscheidenden Platz im gesellschaftlichen Bewußtsein erhalten,<br />
während die Religion, die politische <strong>und</strong> Rechtsideologie absterben <strong>und</strong> die Funktion<br />
der Verhaltensregulierung ganz auf die - nunmehr von wissenschaftlicher Erkenntnis über<br />
den Menschen getragene -Moral übergehen werden. 14<br />
Bewußtseinsformen können sich erhalten, auch wenn die Bedingungen, unter denen<br />
sie entstanden sind, längst nicht mehr existieren. Daraus ergeben sich die Probleme der<br />
„ideologischen Erziehungsarbeit“ der kommunistischen Partei an der Macht: „Anti<strong>soziale</strong><br />
Einstellungen“ <strong>und</strong> „falsches Bewußtsein“ verschwinden nicht automatisch, da ideologische<br />
<strong>und</strong> ökonomische Entwicklung nicht unmittelbar zusammenfallen <strong>und</strong> die Ökonomie<br />
sich nur in „letzter Instanz“ durchsetzt. Man konstatiert, daß die gesellschaftlichen Bewußtseinsformen<br />
in einem komplizierten Wechselverhältnis zueinander <strong>und</strong> zu den materiellen<br />
gesellschaftlichen Verhältnissen stehen, das jeweils konkret analysiert werden<br />
muß. Ideen sind <strong>für</strong> den <strong>Marxismus</strong> zwar nicht die treibenden Geschichtsmächte, dies<br />
bedeutet aber keineswegs, daß er ihre Wirkung gleich 0 setzt. Welchen Sinn hätte sonst<br />
wohl auch das Wort des jungen Marx von der Idee, die zur materiellen Gewalt wird, wenn<br />
sie die Massen ergreift? 15 Die Rolle der geistigen Auseinandersetzung wird deshalb vom<br />
<strong>Marxismus</strong> nicht gering veranschlagt: in seiner Sicht spielt sie sich in unserer Epoche in<br />
erster Linie zwischen den fortschrittlichen Ideen der Arbeiterbewegung <strong>und</strong> der reaktionä-<br />
180<br />
11 Konstantinow, S. 484. Zum Komplex Wissenschaft s. a. die ausführliche Darstellung Bernals 1970.<br />
12 Konstantinow, S. 490.<br />
13 Gr<strong>und</strong>risse, S. 594.<br />
14 Konstantinow, S. 503.<br />
15 Vgl. MEW 1, S. 385.