Marxismus und Anthroposophie - Institut für soziale Gegenwartsfragen
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III. Teil: Geschichte, Gesellschaft<br />
<strong>und</strong> Persönlichkeit<br />
Die materialistische Geschichtsauffassung: Basis-<br />
Überbau-Lehre <strong>und</strong> Begriff der ökonomischen Gesellschaftsformation<br />
Bis heute sehen seine Anhänger die wissenschaftliche Großtat des <strong>Marxismus</strong> vor allem<br />
im Aufweis der Entwicklungsgesetze der Gesellschaft. <strong>Marxismus</strong>-Kritiker sehen<br />
dagegen die These, die Entwicklung der Gesellschaftsformen sei ein „naturgeschichtlicher<br />
Prozeß“ im Widerspruch zum gleichzeitigen Appell zur praktischen Veränderung; -<br />
es sei dasselbe, so der Neukantianer R. Stammler, als wolle man eine Partei gründen,<br />
um eine Mondfinsternis herbeizuführen. Die Begründung des Sozialismus als Sollens-<br />
Forderung vertrage sich nicht mit dem Postulat seiner notwendigen Genese aus dem<br />
gesellschaftlichen Sein. 45<br />
Tatsächlich scheint sich Marx dieser Problematik bewußter gewesen zu sein, als die<br />
Kritiker gewöhnlich unterstellen. Zwar kann seiner Meinung nach selbst diejenige Gesellschaft,<br />
die „dem Naturgesetz ihrer Bewegung auf die Spur gekommen ist [...], naturgemäße<br />
Entwicklungen weder überspringen noch wegdekretieren.“ Doch ist der Spielraum<br />
des „subjektiven Faktors“ immerhin so weit bemessen, daß sich die Entwicklung „ in brutaleren<br />
oder humaneren Formen“ bewegen kann, daß kluges geschichtliches Handeln<br />
„die Geburtswehen“ einer neuen Gesellschaftsordnung „abkürzen oder mildern“ kann. 46<br />
Im „Kommunistischen Manifest“ ist gar die Rede davon, daß die geschichtlichen Klassenkämpfe<br />
jeweils mit dem Sieg einer Seite oder dem gemeinsamen Untergang der<br />
kämpfenden Klassen endeten, also in ihrem Ausgang nicht vollständig vorherbestimmt<br />
waren. 47 Der revolutionäre <strong>Marxismus</strong>, so argumentieren heute sowjetische Marxisten, hat<br />
den Objektivismus <strong>und</strong> Ökonomismus der II. Internationale bekämpft, der, auf die Verwirklichung<br />
der objektiven Geschichtsgesetze im Selbstlauf bauend, die revolutionäre<br />
Aktion der Massen mißachtet hat. Die Kenntnis der Geschichtsgesetze entbinde jedoch<br />
nicht vom Handeln, sondern verlange es geradezu, um die objektiven Gesetze zu realisieren.<br />
Die Geschichtsgesetze _ obwohl sie mit Notwendigkeit wirken - dürfen nicht einfach<br />
mit Naturgesetzen gleichgesetzt werden: In der Natur wirken blinde Agenzien, „in der<br />
Geschichte der Gesellschaft sind die Handelnden lauter mit Bewußtsein begabte, mit<br />
Überlegung oder Leidenschaft handelnde, auf bestimmte Zwecke hinarbeitende Menschen;<br />
nichts geschieht hier ohne bewußte Absicht, ohne gewolltes Ziel [...]“, schreibt<br />
Engels. 48 Die gesellschaftlichen Gesetze müssen also als Zusammenhänge im menschlichen<br />
Handeln gedacht werden, wobei auch noch allgemeingültige Gesetzmäßigkeiten<br />
<strong>und</strong> solche, die nur <strong>für</strong> bestimmte Gesellschaftsformen, z.B. Klassengesellschaften, gelten,<br />
unterschieden werden müssen.<br />
Die erste <strong>und</strong> gr<strong>und</strong>legende Notwendigkeit <strong>für</strong> das geschichtliche Handeln ergibt sich<br />
aus dem Zwang zur Existenzerhaltung durch Arbeit: Die Menschen brauchen Nahrung,<br />
Kleidung, Wohnung usw., die sie sich im „Stoffwechselprozeß mit der Natur“ erwerben<br />
müssen. Die Bedingungen dieses Erwerbs zwingen zur Gemeinschaftlichkeit: nur durch<br />
gemeinschaftliche, gesellschaftliche Arbeit können die Menschen sich gegenüber der<br />
Natur behaupten. Hier kann man von einem objektiven Gesetz sprechen, insofern diese<br />
Notwendigkeit unabhängig ist von den Vorstellungen <strong>und</strong> Wünschen der Menschen, die<br />
sich ihr vielmehr anzupassen haben. Auch sieht sich der einzelne immer bereits in eine<br />
bestimmte Gesellschaftsform hineingeboren <strong>und</strong> dadurch mit objektiven Voraussetzungen<br />
seines Handelns konfrontiert, die er nicht willkürlich ändern kann.<br />
45 MEW 23, S. 16. Stammler n. Konst., S. 268f. Zum gesamten Kapitel vgl. dort 265-335 <strong>und</strong> die entspr. Ka-<br />
pitel des Lehrbuchs „Gr<strong>und</strong>lagen des hist. Mat.“<br />
46 MEW 23, S. 15f.<br />
47 MEW 4, S. 462.<br />
48 MEW 21, S. 296.