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Marxismus und Anthroposophie - Institut für soziale Gegenwartsfragen

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Nicht weniger verhängnisvoll in bezug auf die Gewichtung der Momente <strong>und</strong> Seiten<br />

des Erkenntnisprozesses als die mangelnde Differenzierung zwischen Wahrnehmung<br />

<strong>und</strong> Vorstellung ist die zwischen Vorstellung <strong>und</strong> Begriff. An einer sinnlich gegebenen<br />

Kreislinie kann ich nur die Vorstellung, nicht den Begriff eines Kreises bilden. Den idealen<br />

Kreis muß ich mir innerlich konstruieren: „Sie haben also den Unterschied zu machen,<br />

daß die Vorstellung gewonnen wird an äußeren Gegenständen, daß der Begriff aber<br />

durch innere Geisteskonstruktion entsteht.“ 13 Der Schein, daß die Begriffsbildung primär<br />

durch Abstraktion zustandekomme, rührt von einem mangelnden Bewußtsein <strong>für</strong> diese<br />

innere Aktivität der Begriffsbildung her: „Man glaubt, in der Außenwelt treten uns [...] weiße,<br />

schwarze, braune, gelbe Pferde entgegen <strong>und</strong> daraus soll man den Begriff des Pferdes<br />

bilden [...] Man läßt, was verschieden ist, weg, zunächst die weiße, schwarze usw.<br />

Farbe, dann, was sonst verschieden ist [...] <strong>und</strong> schließlich bleibt etwas Verschwommenes;<br />

das nennt man den Begriff ,Pferd‘.“ 14 Abstrakt werden die Begriffe in ihrer Isolierung<br />

voneinander <strong>und</strong> von der Wahrnehmung, im bloßen Verstandesdenken. Dieses ist ein<br />

notwendiger Durchgangspunkt des Erkenntnisprozesses, insofern es klar umrissene Begriffe<br />

schafft, ohne die die Welt ein verschwommenes dunkles Chaos bliebe. Aber das<br />

analytische Vermögen bedarf der Ergänzung durch das synthetische der Vernunft, die die<br />

isolierten Einzelgedanken in Fluß bringt, ineinander übergehen läßt <strong>und</strong> dadurch das<br />

Konkrete auf höherer Ebene wiedergewinnt, als die konstitutive geistige Einheit des Mannigfaltigen.<br />

Noch so scharfsinniges Unterscheidungsvermögen erreicht nicht die Tiefenschicht,<br />

in die die zusammenfassende Kraft des Denkens dringt. 15<br />

Ein wichtiges Unterscheidungsmerkmal zwischen der Erkenntniswissenschaft Steiners<br />

<strong>und</strong> den meisten zeitgenössischen Erkenntnistheorien ist seine auf Goethe fußende Auffassung<br />

des Verhältnisses zwischen Erfahrung <strong>und</strong> Theorie. Gesetzesaussagen dürfen<br />

sich nach Steiners Verständnis nicht von der Erfahrung entfernen, sondern dienen nur<br />

dazu, innerhalb des Erfahrungsgebiets das Notwendige vom Zufälligen zu trennen. Es ist<br />

leicht zu sehen, daß das modellorientierte Denken der modernen Naturwissenschaft den<br />

Kompetenzbereich der Theorie demgegenüber viel weiter faßt. Für Goethe <strong>und</strong> Steiner<br />

soll nichts „hinter“ den Phänomenen gesucht werden. Sie sollen nicht interpretiert, sondern<br />

in einen Zusammenhang gebracht werden, in dem sich ihr immanentes Gesetz, ihr<br />

Logos, ausspricht. Die Forderung ‚Zu den Sachen‘ <strong>und</strong> der phänomenologische - nicht<br />

phänomenalistische! - Gr<strong>und</strong>ansatz ist ein Berührungspunkt zwischen Steiners Erkenntnistheorie<br />

<strong>und</strong> der Philosophie Edm<strong>und</strong> Husserls, dessen Lehrer Franz Brentano er in<br />

dem Buch „Von Seelenrätseln“ an zentraler Stelle einen Nachruf gewidmet hat. 16<br />

Daß sich Erfahrung <strong>und</strong> Theorie bzw. Hypothese nicht widersprechen, ist <strong>für</strong> die letzteren<br />

noch kein Beweis. Es könnte ja in der Realität <strong>für</strong> den zu erklärenden Vorgang doch<br />

eine andere Ursache vorliegen, als die hypothetisch unterstellte, denn schließlich können<br />

dieselben Wirkungen verschiedenen Ursachen entspringen. Deshalb müssen <strong>für</strong> Steiner<br />

die Bedingungen <strong>für</strong> ein Phänomen unmittelbar <strong>und</strong> nicht auf dem Umweg der Bestätigung<br />

durch die Folgen aufgewiesen werden. Sonst ist die Gefahr nicht zu umgehen, daß<br />

die Lücke zwischen Sinneserfahrung <strong>und</strong> Denken durch Hirngespinste ausgefüllt wird. 17<br />

Die experimentelle Methode allein ist noch keine Versicherung gegen Phänomenferne<br />

<strong>und</strong> mangelnden Wirklichkeitsbezug des Denkens. Bekanntlich läßt sich die ‚Theorie‘, bei<br />

philosophischer Literatur handle es sich um Brennmaterial, leicht experimentell ‚sichern‘<br />

<strong>und</strong> kaum falsifizieren, ohne daß man dieser Theorie deshalb eine erhebliche Bedeutung<br />

<strong>für</strong> die Wirklichkeit zuerkennen dürfte!<br />

Vom Standpunkt der marxistischen Erkenntnistheorie aus könnte gegen Steiners erkenntniswissenschaftlichen<br />

Ansatz geltend gemacht werden, das Kriterium des Hervorbringens,<br />

durch das Steiner einen Schnitt durch das Gegebene zieht, müsse in Wahrheit<br />

auf die materielle Praxis bezogen werden, diese, nicht die Denkpraxis, verbürge Erkenntnis.<br />

Dem kann verschiedenes entgegnet werden. Zunächst einmal wäre es unzutreffend,<br />

Steiner eine ‚idealistische‘ Unterschätzung der gegenständlichen Tätigkeit zu unterstellen.<br />

Für Steiner ist ein unpraktisches Denken <strong>und</strong> gedankenlose Praxis gleichermaßen<br />

als Wahrheitskriterium untauglich. Für ihn existiert zwischen Denken <strong>und</strong> Praxis keine<br />

chinesische Mauer: Denken ist eine ,innere Handlung‘ - okkult-physiologisch eine Bewe-<br />

13<br />

GA 108, S. 179.<br />

14<br />

ibd.<br />

15<br />

Vgl. GA 2, 52-55.<br />

16<br />

GA 21. Steiner würdigt dort Brentanos Entdeckung der „intentionalen Beziehung“ als Wesensmerkmal<br />

des Seelischen.<br />

17<br />

Vgl. Anm. Steiners zu Goethe, Sprüche in Prosa, S. 27 <strong>und</strong> 31; Anm. zu Goethe, Materialien zur Geschichte<br />

der Farbenlehre, Abschnitt: „Newtons Persönlichkeit“.<br />

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