Marxismus und Anthroposophie - Institut für soziale Gegenwartsfragen
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wäre unsere ohnehin blutleere Sprache gewiß noch ärmer: Uns wird die Einheit von Äußerem<br />
<strong>und</strong> Innerem nicht mehr geschenkt, wir müssen sie bewußt herstellen.<br />
In der Einsicht, daß sich Bewußtsein in der praktischen Auseinandersetzung mit natürlichen<br />
<strong>und</strong> <strong>soziale</strong>n Gegebenheiten entwickelt, liegt ein verbindendes Element zwischen<br />
<strong>Marxismus</strong> <strong>und</strong> <strong>Anthroposophie</strong>, - wenn auch solche Gemeinsamkeit nicht bis zur Antwort<br />
auf die Frage nach der Natur des handelnden Ich trägt. „Das Ich als Tathandlung<br />
begegnet der Welt, spielt mit ihr, pflegt Umgang mit ihr <strong>und</strong> entlockt ihr, indem es Gegenwirkungen<br />
beobachtet <strong>und</strong> vergleicht, ihre Selbstoffenbarung; das Experiment ist ein<br />
eingeschränkter Sonderfall dieses Umgangs. Das Ich vereinigt sich tätig, beobachtend,<br />
urteilend mit der Wirklichkeit der Welt. Nur die Einwirkung bei vollem eigenem Einsatz<br />
<strong>und</strong> tätiger Gegenwart unseres Wesens ruft das Wesen des Gegenüber auf. Das gilt im<br />
Verkehr mit Menschen so gut wie im Verkehr mit der Natur.“ 37<br />
Die Geisteswissenschaft, so Steiner, kenne nicht den unglückseligen Dualismus von<br />
Hand- <strong>und</strong> Kopfarbeit. Handarbeit ist nichts als der Gebrauch der Leibeswerkzeuge im<br />
Dienst des Willens, klarwerden müsse man sich darüber, „daß dieser Wille als ein Geistiges<br />
alles durchpulst, was wir als ganzer Mensch verrichten, <strong>und</strong> wieder zurückstrahlt auf<br />
den Verstand unseres Kopfes [...]“ 38 .<br />
„Je stärker man durch das eigene Tun oder Herstellen mit den Dingen verb<strong>und</strong>en ist,<br />
desto deutlicher bilden sich die Vorstellungen aus“, schreibt Christoph Lindenberg. Durch<br />
die Praxis werden „die Vorstellungen konkret <strong>und</strong> gesättigt [...] Mit dem konkreten Vorstellungsbild,<br />
das aus dem eigenen Tun geboren wird, verbindet sich ein Gefühl <strong>für</strong> die<br />
Sache, ein intuitives Wissen von der Funktion.“ 39 Das darf man nicht im Sinne eines<br />
Mißtrauens in das Denken mißverstehen, etwa nach dem Motto: das Denken bringt es<br />
auf sich gestellt doch bloß zu Hirngespinsten. Die Korrektur eines irrlichternden Denkens<br />
durch die Tatsachen der äußeren Wirklichkeit, mit denen der Mensch arbeitend umgehen<br />
muß, ist <strong>für</strong> das Ich die Schule, die es schließlich auch befähigt, seinem Denken selbst<br />
Richtung <strong>und</strong> Ziel zu geben. Es gibt ein Denken, das auch da nicht versagt, wo die Korrektur<br />
der äußeren Gegenständlichkeit fehlt. Nur ein solches Denken ist auch moralisch<br />
schöpferisch <strong>und</strong> damit in der <strong>soziale</strong>n Praxis fruchtbar.<br />
Steiner geht es im Kern nicht um philosophische Spekulationen über das Bewußtsein,<br />
sondern um Bewußtseinsveränderung: Bewußtseinserweiterung durch Meditation ist das<br />
zentrale Thema. Sie beginnt mit dem Erüben der Konzentrationsfähigkeit. Diese stellt die<br />
Herrschaft des Ich in der Seele wieder her, indem sie die Bewußtseinskräfte auf ein<br />
Thema bzw. Bild bündelt, die Zersplitterung des Bewußtseins aufhebt <strong>und</strong> seine Selbstvergessenheit<br />
heilt, <strong>und</strong> ist damit unter den heutigen Bedingungen eine Frage der Bewußtseinshygiene.<br />
Eine Vielzahl von Symptomen spricht heute von der Sehnsucht nach<br />
einem Durchbrechen der gegebenen Bewußtseinsschranken. Doch wird dieser Durchbruch<br />
vielfach auf Wegen gesucht, die das Bewußtsein zu zerstören oder in atavistische<br />
Formen zurückzustoßen drohen <strong>und</strong> damit gegen die Autonomie des Ich gerichtet sind -<br />
die Bewußtseinserweiterung mit der Droge ist nur die extremste Form. Steiners Weg<br />
unterscheidet sich gr<strong>und</strong>legend von zahllosen anderen „Angeboten“ an Meditationspraktiken<br />
dadurch, daß er beim Denken beginnt: der Übende soll seine intellektuelle<br />
Wachheit nicht zum Opfer bringen, sondern noch steigern.<br />
Steiners Antwort auf die Frage nach der Unsterblichkeit der Seele als Substrat des<br />
Bewußtseins ist nicht philosophisch-spekulativ, sondern besteht im Hinweis auf die Möglichkeit<br />
eines Bewußtseinszustandes, in dem sich der Mensch in seinem Wesenskern<br />
leibfrei erfassen kann: <strong>für</strong> das gewöhnliche leibgeb<strong>und</strong>ene Bewußtsein muß alles, was<br />
mit dieser Frage zusammenhängt, unentscheidbar sein, ja, daß die „Seele nach ihrer<br />
Fortdauer verlangt, sollte unter allen Umständen dazu führen, sie mißtrauisch zu machen<br />
gegen alle Meinungen, welche sie über diese Fortdauer bildet. Denn warum sollten sich<br />
die Tatsachen der Welt kümmern um das, was die Seele empfindet?“ Es könnte mit dem<br />
Tod alles aus sein, „auch wenn es als sinnlos empf<strong>und</strong>en würde.“ 40 Andererseits überschreitet<br />
die auf die Erforschung der physischen Welt bezogene Wissenschaft ihre Kompetenzen,<br />
wenn sie Aussagen über die Unsterblichkeit macht: „Der Tod bedeutet, als<br />
Tatsache der physischen Welt betrachtet, eine Veränderung der Verrichtungen des Leibes.<br />
Dieser hört mit dem Tode auf, durch seine Einrichtungen der Vermittler der Seele<br />
<strong>und</strong> des Geistes zu sein. Was mit Seele <strong>und</strong> Geist dann geschieht, das entzieht sich<br />
69<br />
37 Lauenstein 1974, S. 317.<br />
38 GA 333, S. l00f.<br />
39 Lindenberg 1981, S. 39.<br />
40 GA 16,S. 14f.