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Marxismus und Anthroposophie - Institut für soziale Gegenwartsfragen

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gegen Kant stellen, der den Wissen-Glauben-Gegensatz philosophisch festschreiben will.<br />

Demgegenüber sieht er in der Philosophie des Thomas von Aquino Anknüpfungspunkte<br />

<strong>für</strong> den Versuch, den Gegensatz aufzulösen. Der Neothomismus, der bei Thomas stehengeblieben<br />

ist, statt über ihn hinauszugehen, vermag diese freilich nicht zu nutzen. Für<br />

Thomas wird „Aristoteles“ Weltanschauung zum Führer bis zu jener Grenze, bis zu der<br />

das menschliche Seelenleben mit seinen eigenen Kräften dringen kann; jenseits dieser<br />

Grenze liegt, was im Sinne des Thomas griechische Weltanschauung nicht erreichen<br />

konnte. Für Thomas von Aquino bedarf also das menschliche Denken eines anderen<br />

Lichtes, von dem es erleuchtet werden muß. Er findet dieses Licht in der Offenbarung.“ 37<br />

Steiner läßt <strong>für</strong> ein kirchliches Monopol der Auslegung eines ein <strong>für</strong> allemal Offenbarten<br />

keinen Raum mehr, hält aber gleichzeitig an der Frage des Thomas fest: Wie wird das<br />

Denken christlich gemacht? Diese Frage ist <strong>für</strong> Steiner identisch mit der anderen: wie<br />

kann das menschliche Denken, das in der neuzeitlichen Wissenschaft nur fähig ist, das<br />

Tote zu begreifen, die Gesetze der anorganischen Welt <strong>und</strong> ihr Wirken in den organischen<br />

Wesen, dazu kommen, das Lebendige zu begreifen, den selbstbeweglichen Geist<br />

als den Gr<strong>und</strong> allen Seins <strong>und</strong> Werdens? Und die Antwort lautet, daß das Denken sich<br />

dazu nicht bloß anderen Inhalten zuwenden, sondern sich in seinem innersten Wesen<br />

wandeln, verlebendigen <strong>und</strong> spiritualisieren muß. Durch eine innere Überwindung, <strong>für</strong> die<br />

man ein altes Bild in dem Michael-Kampf mit dem Drachen findet, kann der Mensch die<br />

Kälte seines Denkens überwinden <strong>und</strong> zu einer in geistiger Art wirkenden Kraft der Liebe<br />

finden, die in das innerste Wesen der Dinge eintaucht. Ein solches Denken kann dann<br />

nicht nur die einmal geoffenbarten geistigen Wahrheiten einsehen, es kann sich ihm der<br />

Geist selbst offenbaren: Die innere Durchlichtung <strong>und</strong> Durchchristung des Denkens ist<br />

die „spirituelle Sündenerhebung“, die den „intellektuellen Sündenfall“ überwindet, der den<br />

Erkennenden vom Wesen der Welt abschneidet <strong>und</strong> ihn nur ihre Außenseite, ihre tote<br />

Rinde erkennen läßt, diese allerdings immer präziser. Es ist ein im Goetheanismus angelegtes<br />

„lebendiges Naturerkennen“, das in den durch die Dialektik des wissenschaftlichen<br />

Fortschritts immer mehr zerfaserten Einzelheiten - den scheinbar konkreten, in Wahrheit<br />

höchst abstrakten Gegenständen der Einzelwissenschaften - wieder das geistige Band,<br />

den lebendigen Zusammenhang auffindet. 38<br />

Steiners positives Verständnis der modernen naturwissenschaftlichen Entwicklung ist<br />

begründet in der Einsicht in ihre bewußtseinsgeschichtliche Notwendigkeit. Wissenschaft,<br />

auch als technisches Verfügen-Wollen über Naturprozesse, hält er <strong>für</strong> nützlich <strong>und</strong> berechtigt.<br />

Für die Erforschung der eigentlichen Welträtsel indessen ist das aus Nützlichkeitsantrieben<br />

heraus gewonnene Wissen nicht geeignet. Die Aussagen der modernen<br />

Naturwissenschaft werden einer späteren Zeit ebenso in ihrer Standortgeb<strong>und</strong>enheit <strong>und</strong><br />

Relativität erscheinen, wie uns heute das Weltbild des Ptolemäus als zeitbedingt erscheint.<br />

Trotz seiner Bejahung des wissenschaftlich-technischen Fortschritts ist <strong>für</strong> Steiner die<br />

Technik nicht „neutral“, nur durch das Wie der Anwendung menschlich relevant. Für ihn<br />

haben die modernen Techniken durchaus „,an sich“ eine moralische Seite, die mit den<br />

Natur- <strong>und</strong> vor allem Unternatur-Qualitäten zu tun hat, auf denen sie aufbauen. Daß die<br />

Plastik- <strong>und</strong> Elektro-Welt unserer Kultur zunehmend als steril, kalt, trostlos usw. erlebt<br />

wird, hat darin seine tieferen Ursachen. Doch Steiner plädiert nicht <strong>für</strong> ein Rückwarts, im<br />

Gegenteil, er fordert dazu auf, mit den neuen Realitäten leben zu lernen, sie zu bewältigen<br />

durch eine Ästhetik des Alltags, durch eine <strong>soziale</strong> Kunst, eine neue Pädagogik usw.:<br />

„Im naturwissenschaftlichen Zeitalter, das um die Mitte des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts beginnt,<br />

gleitet die Kulturbetätigung der Menschen allmählich nicht nur in die untersten Gebiete<br />

der Natur, sondern unter die Natur hinunter. Die Technik wird Unter-Natur [...] Das erfordert,<br />

daß der Mensch erlebend eine Geist-Erkenntnis finde, in der er sich ebenso hoch in<br />

die Über-Natur erhebt, wie er mit der unternatürlichen technischen Betätigung unter die<br />

Natur hinuntersinkt. Er schafft in seinem Innern die Kraft, nicht unterzusinken.“ 39 „Der<br />

Mensch“ ist in dieser Aussage kein Abstraktum, sondern einzelne Individualität. Die Frage<br />

nach der Individualität ist das Kernproblem, um das sich das Verständnis des Unterschieds<br />

von <strong>Marxismus</strong> <strong>und</strong> <strong>Anthroposophie</strong> dreht. Die Formulierungen der marxistischen<br />

Philosophie von der Wesenskräfteentwicklung als Selbstzweck, dem „individuellen Gemeinwesen“<br />

usw. 40 umkreisen, anthroposophisch betrachtet, die eigentliche Kernfrage<br />

nach dem Wesen der Selbstidentität des Menschen, nach dessen „,Ich“, ohne diesen<br />

192<br />

37 GA 18 I, S. 73f.<br />

38 Zu Thomas GA 74, S. 71f.;<br />

39 GA 26, S. 259.<br />

40 Vgl. im vorigen Kapitel.

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