Marxismus und Anthroposophie - Institut für soziale Gegenwartsfragen
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Wahrheitskonzeption vornimmt, ist von manchen Kritikern des <strong>Marxismus</strong> übersehen<br />
worden.<br />
Der <strong>Marxismus</strong> anerkennt eine Dialektik von absoluter <strong>und</strong> relativer Wahrheit: Wir<br />
streben nach Vollständigkeit des Wissens, jedoch „[...] die Souveränität des Denkens<br />
verwirklicht sich in einer Reihe höchst unsouverän denkender Menschen“ 12 Wer absolute<br />
Wahrheiten will, läuft einer Schimäre nach oder bringt es nur zu wenig informationshaltigen<br />
‚Erkenntnissen‘ vom Typus ‚XY wurde im Jahr Z geboren‘. Aber in unserem relativ<br />
wahren Wissen, sind gewissermaßen Körnchen der absoluten Wahrheit enthalten. Der<br />
Skeptizismus bleibt einfach bei der Feststellung der Relativität des Wissens stehen, übersieht,<br />
daß die relative Wahrheit eben auch relative Wahrheit ist. Der <strong>Marxismus</strong> ist<br />
relativistisch nicht im Sinne der Leugnung der objektiven Wahrheit, sondern im Sinne der<br />
Anerkennung der geschichtlichen Bedingtheit der Grenzen der Annäherung unserer<br />
Kenntnisse an die absolute Wahrheit. Die Grenzen der Gültigkeit einer Aussage können<br />
durch die Entwicklung der Wissenschaft <strong>und</strong> der Technik enger oder weiter gezogen<br />
werden. Die permanente Überprüfung von Wissen in der Praxis muß immer wieder falsche<br />
Absolutsetzungen relativieren <strong>und</strong> eliminieren. 13<br />
Die Beweisbarkeit eines Satzes allein sei als Wahrheitskriterium nicht ausreichend,<br />
denn im Beweis trete das Wissen nicht aus seiner eigenen Sphäre heraus. Ein rein formales<br />
Wahrheitskriterium, wie es etwa die positivistische Kohärenztheorie der Wahrheit<br />
anbietet, sei ungenügend; auch dürfe man nicht die Denkgesetze als bloße Konvention<br />
auffassen, wenn man nicht den Gedanken der objektiven Wahrheit zerstören wolle. Eine<br />
rein empirische Begründung der Wahrheit gilt ebenfalls als unmöglich, da „die Empirie<br />
der Beobachtung allein“, wie Hume <strong>und</strong> Kant durchaus richtig gezeigt hätten, „nie die<br />
Notwendigkeit genügend beweisen“ kann: „Das ist so richtig, daß aus dem steten Aufgehen<br />
der Sonne des Morgens nicht folgt, sie werde morgen wieder aufgehen.“ 14 Da die<br />
jeglicher Evidenz widersprechende Paradoxie nichts Ungewöhnliches <strong>für</strong> die heutige<br />
Wissenschaft sei, will man auch von einem Evidenzkriterium der Wahrheit nichts wissen.<br />
Einzig <strong>und</strong> allein in der menschlichen Tätigkeit, <strong>und</strong> zwar in der gesellschaftlichhistorischen<br />
Praxis der ganzen Menschheit, sei ein Wahrheitskriterium letzter Instanz<br />
gegeben.<br />
Die technische Machbarkeit, die experimentelle Reproduzierbarkeit eines Vorgangs<br />
aus seinen Existenzbedingungen beweist, daß unser Wissen das Ding an sich richtig<br />
widerspiegelt, <strong>und</strong> widerlegt jeden Agnostizismus. „[...] in der Praxis wird die Objektivität<br />
des Wissens zur sinnlichen Gewißheit.“ 15 Man überwinde durch das Praxiskriterium die<br />
schlechte Unendlichkeit des Aufzählens von Beispielen <strong>und</strong> Tatsachen. Die Dampfmaschine<br />
bewies die These der Physik von der Umwandlung der Wärmeenergie in mechanische<br />
Energie, <strong>und</strong> „100 000 Dampfmaschinen bewiesen das nicht mehr als eine“. 16 Die<br />
Anwendung der Kernenergie sei der Beweis der objektiven Wahrheit der physikalischen<br />
Vorstellungen vom Aufbau des Atoms.<br />
Andererseits ist man sich dessen bewußt, daß nicht jede Aussage unmittelbar praktisch<br />
überprüft werden kann, sondern nur gewisse entscheidende Glieder der formallogischen<br />
Beweiskette. Das Praxis-Kriterium, so Lenin, könne dem Wesen der Sache<br />
nach niemals eine menschliche Vorstellung vollständig bestätigen oder widerlegen, sei<br />
zugleich aber auch „bestimmt genug“, „um gegen alle Spielarten des Idealismus <strong>und</strong><br />
Agnostizismus einen unerbittlichen Kampf zu führen.“ 17<br />
Der <strong>Marxismus</strong> will das Erkenntnisproblem konsequent dialektisch angehen. Das bedeutet<br />
zunächst einmal, Erkenntnis nicht <strong>für</strong> etwas Fertiges <strong>und</strong> Abgeschlossenes zu<br />
nehmen, sondern zu untersuchen, wie „Wissen aus Nicht-Wissen entsteht“, wie das Wissen<br />
vervollkommnet wird. 18 Erkenntnis entwickelt sich gemäß den drei Gr<strong>und</strong>gesetzen<br />
jeglicher Entwicklung. Es wirkt in ihr das Gesetz des Qualitätsumschlags: Neue bahnbrechende<br />
Entdeckungen, durch Phasen des Sammelns von Beobachtungsmaterial vorbereitet,<br />
sind die „Sprünge“ in der Wissenschaftsentwicklung. Die Erkenntnis wird vom<br />
Kampf der Gegensätze vorangetrieben, zuallererst von der Dynamik des Subjekt-Objekt-<br />
Widerspruchs. Auch die Erkenntnis macht gemäß dem Gesetz der Negation der Negation<br />
eine Höherentwicklung durch. Gegensätzliche Ansichten <strong>und</strong> Theorien - z. B. die Korpus-<br />
97<br />
12<br />
Engels, MEW 20, S. 80.<br />
13<br />
Vgl. LW 14, S. 129, 132.<br />
14<br />
Engels, MEW 20, S. 497.<br />
15<br />
Konst., S. 104, vgl. MEW 20, S. 498; MEW 21, S. 27Sf.<br />
16<br />
MEW 20, S. 496.<br />
17<br />
LW 14, S. 137.<br />
18<br />
ibd., S. 96.