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Marxismus und Anthroposophie - Institut für soziale Gegenwartsfragen

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Steiner - in unserem Jahrh<strong>und</strong>ert mehr Menschen zu einer wahrhaften <strong>und</strong> wesenhaften<br />

Christus-Begegnung kommen können, in einem ähnlich existentiell erschütternden Sinn,<br />

wie ihn diese Begegnung einst <strong>für</strong> den fanatischen Christentumsgegner Saulus hatte. 16<br />

In der Betonung der Unauslotbarkeit des Göttlichen durch den bloßen Verstand berührt<br />

sich anthroposophische Christologie mit negativer Theologie, die „alle Prädikate<br />

negiert, [...] nicht spricht vom Sein Gottes, sondern von dem Übersein Gottes, [...] nicht<br />

spricht von der Persönlichkeit, sondern von der Überpersönlichkeit [...] 17 Recht verstandene<br />

negative Theologie kommt nicht ins Unbestimmte, ist nicht ein Räsonnieren darüber,<br />

was Gott nicht ist. Vielmehr ist sie das Gewahrwerden des Unausmeßlichen im<br />

Schauen <strong>und</strong> im Vorwärtsdringen des Geistes, der nach Paulus alles erforscht, „auch die<br />

Tiefen der Gottheit“. 18<br />

Aus kirchlichen Kreisen kann man hören, Steiner habe, indem er Selbsterlösung predige,<br />

das Christentum verdorben <strong>und</strong> verkannt, es handele sich um eine Neuauflage<br />

gnostischer Irrlehren, der Reinkarnationsgedanke sei dem Christentum wesensfremd <strong>und</strong><br />

mit ihm unvereinbar. Steiner hat solche Vorwürfe mit Vehemenz zurückgewiesen <strong>und</strong> sie<br />

mit dem Vorwurf eines engstirnigen <strong>und</strong> einseitigen Verständnisses des Christentums<br />

gekontert.<br />

J. Hemleben schreibt dazu, der meditative Weg Steiners widerspreche nicht der Lehre<br />

von Gnade <strong>und</strong> Erlösung, denn die dabei erstrebte innere Aktivität solle neben „anderen<br />

zu entwickelnden Fähigkeiten [...] dem seelisch ausgehöhlten Menschen der Gegenwart<br />

das Vermögen der inneren Ruhe, des Hören- <strong>und</strong> Lauschen-Könnens, des Verehrens<br />

<strong>und</strong> der Andacht wiedergeben. Auf diesem Wege begegnet er der göttlichen Gnadenmacht,<br />

die so notwendig <strong>für</strong> das Wachstum der Seele ist wie die Sonne <strong>für</strong> die Pflanze.“ 19<br />

Steiner läßt denn auch den Karma-Gedanken nicht gegen den der Erlösung <strong>und</strong> Gnade<br />

ausspielen: Karma bedeute zunächst nur, daß Handlungen Folgen haben, die ausgeglichen<br />

werden müssen, „aber es muß nicht immer von einem selbst ausgeglichen werden“.<br />

Gerade weil ein Karma existiere, könne die Hilfe eines göttlichen Wesens dazu beitragen,<br />

dasselbe zu bewältigen, Menschen helfen, auszugleichen, was sie allein nicht ausgleichen<br />

könnten, weil sie zu schwach dazu sind. 20<br />

Gewichtiger als der genannte Einwand ist wohl ein anderer: warum denn die Evangelien<br />

den Reinkarnationsgedanken nicht predigen? Steiner bestreitet das nicht, wenn er<br />

auch versteckte Hinweise auf die Reinkarnation in den Evangelien findet. Daß der Reinkarnationsgedanke<br />

so lange Zeit „vergessen“, öffentlich nicht gelehrt wurde, darin sieht er<br />

eine menschheitspädagogische Notwendigkeit, um den Ernst <strong>und</strong> die entscheidende<br />

Bedeutung des einen Lebens zwischen Geburt <strong>und</strong> Tod deutlich werden zu lassen. Erst<br />

jetzt sei die Zeit reif, den Reinkarnationsgedanken - auf christlicher Basis, wie ihn zuerst<br />

Lessing <strong>und</strong> Widemann konzipiert haben - öffentlich zu verbreiten. 21<br />

Methodisch geht Steiner immer so vor, daß er zuerst nach den realen Erfahrungen<br />

forscht, die diesem oder jenem Text des Alten oder Neuen Testaments zugr<strong>und</strong>e liegen,<br />

die Dechiffrierung der Texte im Detail ist der zweite Schritt, zu dem der erste den Schlüssel<br />

liefern muß. Widersprüche in den religiösen Urk<strong>und</strong>en werden dabei weder geleugnet<br />

noch vordergründig bloß auf verschiedene Schichten <strong>und</strong> Quellen der Überlieferung zurückgeführt.<br />

Wo sie nicht aus Mißverständnissen späterer Zeiten herrühren, aus Umdeutungen<br />

<strong>und</strong> Dogmatisierungen, da sind sie nach Steiner auf die unterschiedliche Rezeption<br />

der religiösen Gehalte aus verschiedenen Mysterientraditionen heraus zurückzuführen,<br />

oder aber sie deuten auf unaufgelöste Rätsel in den religiösen Tatsachen selbst hin.<br />

Das letztere wird von Steiner <strong>für</strong> den Widerspruch in den Stammbäumen Jesu zwischen<br />

Matthäus- <strong>und</strong> Lukas-Evangelium geltend gemacht: das alte theologische Problem der<br />

„zwei Jesusknaben“ findet durch Rudolf Steiner die überraschende Deutung, daß tatsächlich<br />

zwei Jesusknaben existiert haben, <strong>und</strong> daß nach dem Tod des einen dessen Wesen<br />

in gewissem Sinn mit dem des anderen verschmolz; gerade durch diese Verschmelzung<br />

sei das „Gefäß“, seien die „Hüllen“ zubereitet worden, in die sich mit der Jordan-Taufe die<br />

göttliche Christus-Wesenheit einsenkte <strong>und</strong> drei Jahre bis zum Kreuzestod lebte. Daß<br />

dieser Gedanke zunächst phantastisch <strong>und</strong> seltsam anmutet, wurde von Steiner bewußt<br />

in Kauf genommen. Er will nicht etwa die Widersprüche zwischen den beiden Stamm-<br />

187<br />

16 S. GA 118.<br />

17 GA 204, S. 285.<br />

18 1. Korinther 2, 10.<br />

19 Hemleben 1977, S. 95.<br />

20 GA 96, S. 118.<br />

21 Vgl. Bock 1975.

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