Marxismus und Anthroposophie - Institut für soziale Gegenwartsfragen
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Wiedervereinigung von Wissenschaft, Kunst <strong>und</strong><br />
Religion - Persönlichkeit, Christentum<br />
<strong>und</strong> Reinkarnationsgedanke<br />
Steiner strebt nach der Vereinigung von Religion. Die Verselbständigung dieser Bewußtseinsformen<br />
- so notwendig sie menschheitsgeschichtlich gewesen ist - soll also<br />
wieder überw<strong>und</strong>en werden, die ursprüngliche Einheit der drei Momente wiedererrungen<br />
werden, die ihren ideellen Ausdruck in der Trias der Ideale von Wahrheit, Schönheit <strong>und</strong><br />
Güte gef<strong>und</strong>en haben. 1<br />
In den frühen Gemeinschaftsformen der Menschen ist das Geistesleben noch keine<br />
separate Sphäre: es durchdringt das gesellschaftliche Sein als ganzes. Erst allmählich<br />
differenzieren sich die Momente auseinander. Daß es eine religionslose Frühphase der<br />
Menschheit gibt, wird von der <strong>Anthroposophie</strong> bestätigt: nur führt sie dies darauf zurück,<br />
daß die Verbindung der alten Menschheit mit der göttlich-geistigen Welt, wenn sie auch in<br />
das Halbdunkel des traumhaften Hellsehens getaucht war, eine derart unmittelbare war,<br />
daß eine „Re-ligio“, eine Rück-Beziehung, unnötig war. Historisch tritt Religion erst auf,<br />
als die alte Sicherheit, mit der man sich in einem geistdurchwalteten Kosmos aufgehoben<br />
fühlte, zu schwinden begann. 2<br />
Für den ethischen Individualismus hat wirkliche Moralität keinen Klassencharakter,<br />
aber es ist immerhin ein Berührungspunkt, wenn auch die marxistische Analyse der Entwicklung<br />
der gesellschaftlichen Bewußtseinsform Moral konstatiert, daß diese sich von<br />
der Gebots- <strong>und</strong> Verbotsethik weg zu einer größeren Selbstverantwortlichkeit der einzelnen<br />
hin entwickelt. Steiner will, wie wir bereits sahen, eine Ethik als Normwissenschaft<br />
nicht mehr dulden, sondern er konzipiert sie als Naturlehre der Sittlichkeit, welche bloß<br />
nachzuzeichnen hat, wie sich das menschliche Verhalten entwickelt, z.B. wie der Gesetzesgehorsam<br />
des Alten in die Nächstenliebe-Motivation des Neuen Testamentes übergeht.<br />
Dies bedeutet, daß <strong>für</strong> Steiner jede außergesellschaftliche <strong>und</strong> außergeschichtliche<br />
philosophische Ethik ad acta gelegt ist. Genauso verhält er sich zur Ästhetik, von der es<br />
bereits in den Anmerkungen zu Goethes Sprüchen in Prosa heißt, sie könne „nur eine<br />
Naturlehre der Kunst sein“ <strong>und</strong> enthülle „die Gesetze, die im Künstler leben, deren er sich<br />
vielleicht gar nicht bewußt ist, wie die Pflanze nichts weiß von den Gesetzen der Botanik“.<br />
3 Steiner vollzieht einen gewissen Bruch mit der idealistischen Ästhetik, die schließlich<br />
bei Hegel in der Formel vom Schönen als dem sinnlichen Scheinen der Idee mündet.<br />
Wenn die Offenbarung der Idee das Ziel der Kunst ist, dann hätte diese keine spezifische<br />
Aufgabe, die nicht im Gr<strong>und</strong>e auch die Wissenschaft hätte, eine Auffassung, die der Tod<br />
aller künstlerischen Betrachtung sein muß. Das Schöne ist <strong>für</strong> Steiner nicht das sinnliche<br />
Scheinen der Idee, sondern sinnliche Erscheinung, die mit derselben Notwendigkeit gestaltet<br />
ist, die sonst nur in der Idee liegt. Er zitiert Goethe zustimmend, wo dieser schreibt:<br />
„Die Würde der Kunst erscheint bei der Musik vielleicht am höchsten, weil sie keinen Stoff<br />
hat, der abgerechnet werden müßte. Sie ist ganz Form <strong>und</strong> Gehalt <strong>und</strong> veredelt alles,<br />
was sie ausdrückt.“ 4<br />
Es fehlt hier der Platz zu einer Darstellung von Steiners Auffassungen von den Stilwandlungen<br />
der Kunst <strong>und</strong> ihren historischen Wurzeln, <strong>und</strong> dasselbe gilt <strong>für</strong> Steiners<br />
praktisch-künstlerische Aktivitäten, die letztlich von der Konzeption geleitet sind, ein<br />
künstlerisches Element in alles gesellschaftliche Leben einzuführen <strong>und</strong> damit der Kunst<br />
ihren abgehobenen <strong>und</strong> exklusiven Charakter zu nehmen. Da das positive Gr<strong>und</strong>verhältnis<br />
zur Religion <strong>Anthroposophie</strong> mit am stärksten vom <strong>Marxismus</strong> unterscheidet, muß der<br />
Vergleich an diesem Punkt besonders genau sein. Dieses Verhältnis zur Religion bedeutet<br />
nicht, daß <strong>Anthroposophie</strong> eine neue Religionsbildung anstreben würde. Die Anthroposophische<br />
Gesellschaft, so wie Steiner sie in der „Weihnachtstagung“ begründete,<br />
versteht sich als Erkenntnisgesellschaft, die nicht in die individuelle Urteilsbildung ihrer<br />
Mitglieder eingreift. Diese haben kein Bekenntnis oder Programm zu unterstützen, sondern<br />
müssen - jedenfalls laut Statut - nur in der Arbeit einer <strong>Institut</strong>ion wie des Goetheanums<br />
als Freier Hochschule <strong>für</strong> Geisteswissenschaft etwas Sinnvolles sehen. Es gibt also<br />
keinerlei „Priesterschaft“ informeller Art, es wird nicht wie im religiösen Kultus vom ge-<br />
184<br />
1 Vgl. etwa GA 156, Vortr. 20.12.1914; GA 220, Vortr. 19.1.23.<br />
2 Vgl. etwa GA 213, Vortr. 8.7.22; ferner Heyer, Kaspar Hauser, S. 48ff.<br />
3 Anm. Steiners zu Goethe, Sprüche in Prosa, S. 164.<br />
4 „Goethe als Vater einer neuen Ästhetik“, in GA 271, S. 25.