Marxismus und Anthroposophie - Institut für soziale Gegenwartsfragen
Marxismus und Anthroposophie - Institut für soziale Gegenwartsfragen
Marxismus und Anthroposophie - Institut für soziale Gegenwartsfragen
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
wenn er nicht nur die Existenz einer körperlichen Substanz (Materie), sondern auch die<br />
einer geistigen (Seele, Ich) in Abrede stellt.<br />
Humes Philosophie habe ihn aus dem dogmatischen Schlummer geweckt, bekennt<br />
Kant einmal. Dogmatismus ist es seiner Meinung nach, im Sinne der Metaphysik der<br />
Leibniz-Wolffschen Schule ohne erkenntnistheoretische Reflexion auf das Leistungsvermögen<br />
der reinen Vernunft die letzten Fragen über Gott, Seele <strong>und</strong> Unsterblichkeit abmachen<br />
zu wollen <strong>und</strong> damit die Grenzen gesicherten Wissens zu überschreiten. Man<br />
beachte dabei nicht, daß Begriffe ohne empirischen Inhalt leer <strong>und</strong> gehaltlos bleiben<br />
müssen. Darin allerdings ist Kant mit Leibniz einig, daß Erkenntnis nicht allein aus den<br />
Sinnen stammen kann. Das sinnliche Material wäre ein chaotisches Gewühl, wenn es<br />
nicht durch unseren Erkenntnisapparat strukturiert würde. Dieser enthält die reinen Formen<br />
der Anschauung <strong>und</strong> des Verstandes: das Raum-Zeit-Raster <strong>und</strong> die Kategorien.<br />
Jede mögliche Erfahrung muß sich nach diesem Apriori unseres Erkenntnisapparats<br />
richten. Die umgekehrte Auffassung, die Erkenntnis habe sich nach den Gegenständen<br />
zu richten, ist als vermeintlich naiv abgetan. Durch diese „kopernikanische Wende“ hat<br />
Kant gegenüber Hume Allgemeingöltigkeit <strong>und</strong> Notwendigkeit der Erkenntnis zurückerobert:<br />
Der Satz, daß jede Veränderung ihre Ursache hat (Kausalitätsprinzip) z.B., ist ein<br />
„synthetisches Urteil a priori“, nach dem sich jede mögliche Erfahrung richten muß, <strong>und</strong><br />
als solches ist es vollständig gewiß, nicht unsicher <strong>und</strong> Gewohnheitssache, wie Hume<br />
meinte. Aber der Preis, den Kant <strong>für</strong> diesen Vorteil zahlt, ist hoch <strong>und</strong> besteht in der<br />
Preisgabe des Begriffs der objektiven Wahrheit <strong>und</strong> im Agnostizismus: Wie die außerhalb<br />
des Bewußtseins <strong>und</strong> unabhängig von ihm existierenden „Dinge an sich“ beschaffen sind,<br />
die durch ihre reale Einwirkung auf uns die Empfindungen erzeugen, können wir nicht<br />
wissen. Wovon wir wissen können, sind Erscheinungen <strong>für</strong> uns (auch „Vorstellungen“<br />
genannt). Als gänzlich unerkennbar <strong>und</strong> unerfahrbar sind die zunächst recht materialistisch<br />
anmutenden Dinge an sich dann auch wiederum bloße Gedankendinge. Kant nennt<br />
sie denn auch „Noumena“ im Gegensatz zu den „Phänomena“. „Das eigentliche Problem<br />
[...], wie das menschliche Bewußtsein zu allgemeingültigen Erkenntnissen nicht über eine<br />
von ihm selbst bestimmte Erscheinungswelt, sondern über die vom Bewußtsein unabhängige<br />
objektive Welt kommen kann, blieb bei Kant ungelöst.“ 6 Aus dieser Schwäche<br />
machen dann manche Nachfolger Kants eine vermeintliche Tugend, indem sie die These<br />
von der Objektivität des Ding an sich als eine Inkonsequenz Kants deuten. Und zwar<br />
argumentiert man auf einer ähnlichen Linie wie früher Berkeley gegenüber Locke: Das<br />
Gegebene sind die Sinnesempfindungen, jeder Versuch, ihre Übereinstimmung mit einem<br />
sie verursachenden objektiven Gegenstand zu prüfen, führt uns nur zu weiteren<br />
Sinnesdaten oder wirft uns auf die „reinen“, apriorischen Elemente unseres Erkenntnisvermögens<br />
zurück. Bereits die Annahme des Ding an sich ist aus den Sinnesempfindungen<br />
gar nicht ableitbar, denn das Kausalprinzip, das Kant hier zu Hilfe nimmt, ist doch,<br />
wie er selbst in aller Deutlichkeit herausstellt, kein objektives Prinzip, sondern ein Apriori<br />
unseres Geistes. Besonders der Neukantianismus verfängt sich in diesem „erkenntnistheoretischen<br />
Paradoxon“, aus dem man keinen Ausweg mehr ins Objektive findet.<br />
Nach Kant muß die reine Vernunft sich notwendig in Antinomien verstricken, wenn sie<br />
die Erfahrungsgrenzen überschreitet <strong>und</strong> das Absolute ergründen will. Die Dialektik, die<br />
dabei entsteht, ist nur eine „Logik des Scheins“. Kants Nachfolger sehen das anders: Das<br />
Absolute wäre gar nicht absolut, wenn es nicht alle Gegensätze umgreifen würde. Daher<br />
ist es selbst die höhere Einheit des Widersprüchlichen, <strong>und</strong> der Widerspruch darf folglich<br />
nicht als Erkenntnisgrenze interpretiert werden. „Das Absolute zu konstruieren“, schreibt<br />
Hegel 1801, „ist Aufgabe der Philosophie; da aber das Produzieren wie die Produkte der<br />
Reflexion nur Beschränkungen sind, so ist dies ein Widerspruch. Das Absolute soll reflektiert,<br />
gesetzt werden; damit ist es aber nicht gesetzt, sondern aufgehoben worden, denn,<br />
indem es gesetzt wurde, wurde es beschränkt. Die Vermittlung dieses Widerspruchs ist<br />
die philosophische Reflexion.“ 7 Fichtes „Ich, das das Nicht-Ich setzt“, Schellings „Wesensidentität<br />
von Geist <strong>und</strong> Natur“ sind Antworten auf dasselbe Problem. Hegel versucht das<br />
subjektive Subjektiv-Objekt des einen <strong>und</strong> das objektive des anderen Denkers durch ein<br />
„absolutes Subjekt-Objekt“ zu überbieten:<br />
Bei Hegel kehrt die Idee, das Absolute in seinem An<strong>und</strong><strong>für</strong>sichsein (als solches ist es<br />
Gegenstand der „Logik“) aus ihrer Ausdehnung in Raum <strong>und</strong> Zeit (als die sie Gegenstand<br />
der Naturphilosophie ist) in sich selbst zurück <strong>und</strong> wird in der menschlichen Geschichte<br />
zum absoluten Geist, der sich in Kunst, Religion <strong>und</strong> Wissenschaft betätigt (Geistphiloso-<br />
74<br />
6 Klaus/Buhr, S. 362.<br />
7 Hegel, Differenzschrift (1801), S. 17.