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Marxismus und Anthroposophie - Institut für soziale Gegenwartsfragen

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ihre These damit begründet, daß eine elitäre Funktionärsschicht - wiewohl formell nicht<br />

Eigentümer der Produktionsmittel - faktisch über diese nach Maßgabe ihrer bürokratischen<br />

Herrschaftsinteressen verfüge. Auch das nicht unerhebliche Einkommensgefälle<br />

wird im Sinne solcher neuen Klassenherrschaft interpretiert.<br />

Hier sollen weniger diese Argumente pro <strong>und</strong> contra interessieren, vielmehr die Frage<br />

des Aufbaus von <strong>soziale</strong>n Strukturen, der durch das Fähigkeitsgefälle bedingt ist, <strong>und</strong><br />

des Abbaus solcher Strukturen, wenn sie durch ihre Verfestigung mit der realen Fähigkeitsverteilung<br />

in Konflikt geraten, was letztlich zu einer Umschichtung der Klassenverhältnisse<br />

führen muß, sei es auf evolutionärem, sei es auf revolutionärem Wege. Klassenkampf<br />

tritt nicht einfach da auf, wo vertikale Arbeitsteilung herrscht, sondern da, wo<br />

sie nicht mehr sachlich begründet ist, wo Urteilsfähigkeit <strong>und</strong> Mündigkeit der Mehrheit<br />

mißachtet wird.<br />

Die Art der <strong>soziale</strong>n Strukturen, die aus dem Handeln der Individuen hervorgehen, ist<br />

nicht unabhängig von den Antrieben, denen sich diese Handlungen verdanken. Letztlich<br />

muß Machtstreben Unfreiheit <strong>und</strong> Unterdrückungsstrukturen schaffen, während nur wirkliche<br />

Menschenliebe Einrichtungen der echten Sorge um den Menschen zustandebringt.<br />

In der Dialektik von Herrschaft <strong>und</strong> Knechtschaft, Gewalt <strong>und</strong> Gegengewalt sind es die<br />

starken Individualitäten, die sich mit den von anderen geschaffenen <strong>und</strong> verteidigten Verhältnissen<br />

nicht abfinden wollen <strong>und</strong> gegen sie rebellieren.<br />

Aus der Klassenlage allein, ohne ihre Vermittlung mit bewußtseinsmäßigen Konstellationen,<br />

die schließlich immer wieder auf die Seelenentwicklung des einzelnen <strong>und</strong> der<br />

ganzen Menschheit verweisen, ist weder zu erklären, warum die Arbeiterschaft zeitweise<br />

revolutionär <strong>und</strong> sozialistisch, warum sie in anderen Zeiten in ihrer Mehrheit antirevolutionär<br />

gestimmt, „ins System integriert“ war. Denn es kommt darauf an, wie gesellschaftliche<br />

Verhältnisse erlebt, ob sie lethargisch erduldet werden oder zu folgenreicher Empörung<br />

führen. Dennoch bleibt unbestritten, daß an der Marxschen These vom Proletariat als der<br />

Klasse „mit radikalen Ketten“ zumindest dies eine wahr ist: daß eher diejenigen massenhaft<br />

zu Trägern eines neuen Bewußtseins werden <strong>und</strong> eine Erneuerung der Gesellschaft<br />

anstreben, die mit dieser Erneuerung keine Privilegien zu verlieren, sondern nur Hoffnung<br />

zu gewinnen haben. Und ohne Konflikte zwischen retardierenden Kräften <strong>und</strong> Trägern<br />

eines neuen Bewußtseins ist Fortschritt überhaupt nicht zu haben. Diese Trägerschaft<br />

allein am Klassenbegriff festmachen zu wollen, ist sicher ebenso falsch, wie klassenmäßige<br />

Voraussetzungen <strong>für</strong> die Entstehung <strong>und</strong> Schaffung von Bewußtsein zu negieren:<br />

Daß Steiner Klassenbewußtsein durch Menschenbewußtsein ersetzen will, hindert ihn<br />

nicht daran, von der untergehenden bürgerlichen Lebensauffassung <strong>und</strong> den Zukunftskräften<br />

im Proletariat zu sprechen. 10<br />

Die Konflikte, ohne die eine neue Gesellschaft sich nicht durchsetzen kann, stellt Steiner<br />

sich nicht schlicht im Sinne eines Kampfs „Klasse gegen Klasse“ vor - vielmehr sind<br />

die überraschendsten Konstellationen denkbar. Denn Vernunft <strong>und</strong> Unvernunft gibt es in<br />

allen gesellschaftlichen <strong>und</strong> politischen Lagern. Wenn Steiner das Marxsche Klassenkampfmodell<br />

kritisiert, dann allerdings nicht von der Position eines Ideologen einer „Sozialpartnerschaft“,<br />

die das „Klassenkampfdenken vergangener Zeiten“ abschaffen will,<br />

ohne den Klassenantagonismus anzutasten. Steiners Konzept <strong>soziale</strong>r Neuordnung sieht<br />

vor, die Ursachen des Klassenkampfs - den Handel mit Rechten <strong>und</strong> Fähigkeiten, das<br />

Verhältnis von „Kapitalist“ <strong>und</strong> „Lohnarbeiter“ - abzuschaffen, um so erst eine echte Partnerschaft<br />

zwischen den vorwiegend körperlich <strong>und</strong> den vorwiegend geistig Arbeitenden<br />

herzustellen. Die Marxsche Konzeption bedeutet <strong>für</strong> Steiner, daß der Gr<strong>und</strong>gedanke der<br />

bürgerlichen Ideologie vom Zusammenfallen des allgemeinen Wohls mit dem ökonomischen<br />

Interesse der Bourgeoisie nur umgepolt wird: Statt die Interessen- <strong>und</strong> Standpunktlogik<br />

über Bord zu werfen, wird nur die Klasse ausgetauscht, deren Interessen mit denen<br />

des Allgemeinen identisch sein sollen. Dadurch überstrapaziert Marx den Begriff des<br />

Interesses. Interessen, z.B. auch konkurrierende Interessen innerhalb der Arbeiterklasse,<br />

sind immer Egoismen. Diese können etwas höchst Berechtigtes an sich haben, reichen<br />

aber nie aus, um eine <strong>soziale</strong> Ordnung zu begründen. Dies erfordert vielmehr bewußte<br />

Verständigung, die Suche von Vernünftigen nach vernünftigen Lösungen.<br />

Auch unter den Marxisten ist das Klassenkampfproblem kontrovers diskutiert worden.<br />

So schreibt der „Austromarxist“ Adler: „Der Klassenkampf ist [...] nicht, wie die meisten<br />

Bekämpfer des <strong>Marxismus</strong> meinen, ein Kampf bloßer ökonomischer Interessen, sondern<br />

weil er dies nur im Rahmen der ideologischen Formen des Bewußtseins sein kann, wel-<br />

168<br />

10 Vgl. GA 328, Vortr. 3. 2. 19, <strong>und</strong> GA 192, Vortr. 1. 5. 19.

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