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Marxismus und Anthroposophie - Institut für soziale Gegenwartsfragen

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87<br />

Steiner <strong>und</strong> die Gr<strong>und</strong>probleme der Dialektik<br />

Steiners Haltung zu Hegel ist differenzierter, als die Bemerkung in einem frühen Brief<br />

an E. von Hartmann erwarten läßt, er glaube sich von Hegel „in gar nichts zu unterscheiden,<br />

sondern nur einzelne Konsequenzen seiner Lehre zu ziehen.“ 1 Auf der einen Seite<br />

legt er den Anthroposophen wiederholt Hegels Dialektik als großartiges Mittel der Denkschulung<br />

ans Herz <strong>und</strong> beklagt, daß der gesamten offiziellen Wissenschaft <strong>und</strong> den meisten<br />

Zeitgenossen das dialektische Vermögen der soliden begrifflichen Arbeit fehle. Auf<br />

der anderen Seite strebt er über das Nur-Dialektische hinaus nach innerer Erfahrung 2 , die<br />

mehr ist als die Gehirnerlebnisse, als deren Mystiker er Hegel einmal bezeichnet.<br />

Steiners Verhältnis zu Hegel ist immer dort ein gespaltenes, wo dessen eigenes Verhältnis<br />

zum Wert der menschlichen Individualität ein zwiespältiges ist: Zwar gilt Hegel das<br />

Bewußtsein der Freiheit als Gradmesser des historischen Fortschritts, zwar spricht er<br />

vom Selbstbewußtsein <strong>und</strong> der Würde der Persönlichkeit. Jedoch sucht er den „Weltinhalt<br />

in seiner höchsten Form nicht auf dem Gr<strong>und</strong>e der menschlichen Persönlichkeit“ 3 ,<br />

sondern in einer unpersönlichen Weltidee <strong>und</strong> läßt sich das individuelle Ich einer aus<br />

seinem eigenen Wesen geholten Abstraktion fügen. Der einzelne, so Steiner, erscheint<br />

dem objektiven Geist gegenüber, der sich in Recht, Staat, Sittennormen <strong>und</strong> sittlichen<br />

<strong>Institut</strong>ionen manifestiert, minderwertig <strong>und</strong> zufällig. 4<br />

Auch wenn Steiner Hegel den Philosophen der Goetheschen Weltanschauung nennt,<br />

will er doch seiner Gedankenleistung nicht den gleichen Wert zuerkennen wie der Goethes.<br />

Auch wenn beide die Beobachtung des Denkens <strong>und</strong> damit die Selbstwahrnehmung<br />

hätten vermeiden wollen, so sei dieser Mangel doch im Rahmen der Naturanschauung<br />

weniger ins Gewicht gefallen als bei der Reflexion über die Ideenwelt selbst.<br />

Hegel bleibe wie festgebannt im Zwischenreich der reinen Begriffe, zwischen physischer<br />

<strong>und</strong> geistiger Welt stehen, ohne durch die Ideenwelt die Anschauung individuellen Geist-<br />

Daseins zu suchen. Auf die existentiellen Fragen des Menschen nach dem Wert <strong>und</strong> Sinn<br />

seines persönlichen Daseins, nach Ungeborenheit <strong>und</strong> Unsterblichkeit gehe Hegel im<br />

Gr<strong>und</strong>e nicht ein. 5<br />

Steiners Auffassung von der Entwicklung ist der gewöhnlich als dialektisch bezeichneten<br />

dessen ungeachtet jedoch sehr verwandt: Die Entwicklung ist <strong>für</strong> ihn nicht so flach<br />

<strong>und</strong> trivial, wie das, was man sich gewöhnlich unter Widerspruchslosigkeit vorstellt, denn<br />

das Lebendige durchläuft widersprechende Gestalten, <strong>und</strong> man muß die Einheit im Widerspruch<br />

aufsuchen.<br />

Die Weltentwicklung, so lehrt er, verläuft in Gegensätzen <strong>und</strong> nicht geradlinig. Das<br />

Einfache ist vielfach das Spätere in der Evolution, die Umwege einschließt <strong>und</strong> das Verschlungene<br />

erst begradigen muß. Die Weltgeschichte wird immer wieder vorangetrieben<br />

durch Einschläge, die einen qualitativen Sprung darstellen. 6 Wo Steiner über die Hegelsche<br />

Dialektik hinausgeht, verwirft er sie nicht, sondern hebt sie gewissermaßen dialektisch<br />

auf: das Instrumentarium dialektisch-logischer Begriffskunst wird bei dem Schritt zur<br />

seelischen Beobachtung nicht zurückgelassen. Steiners Darstellung der Hegelschen<br />

Kategoriendialektik von Wesen <strong>und</strong> Erscheinung in dem Vortrag „Das Bilden von Begriffen<br />

<strong>und</strong> die Kategorienlehre Hegels“ ist ein schönes Beispiel <strong>für</strong> diesen Ansatz: „Das<br />

Wesen“, sagt er dort, „ist das in sich aufgehaltene Sein, das sich von sich selber durchdringende<br />

Sein [...] Das ,Wesen‘ ist das im Inneren arbeitende Sein [...] Wir sprechen<br />

vom Wesen des Menschen, wenn wir seine höheren Glieder mit den niederen zusammen<br />

anführen [...] Aus dem Begriff des Wesens gewinnen Sie den Begriff der ,Erscheinung‘,<br />

des sich nach außen hin Manifestierens, das Gegenteil des Wesens [..] Wenn aber inneres<br />

Wesen überfließt in die Erscheinung, so daß die Erscheinung selbst das Wesen enthält,<br />

so sprechen wir von ,Wirklichkeit‘. Kein dialektisch geschulter Mensch wird den Begriff<br />

,Wirklichkeit‘ anders aussprechen, als daß er dabei denkt an ,Erscheinung‘ durchdrungen<br />

von ,Wesen‘„ [...] „Wesen ist das Sein, das in sich selber zu sich gekommen ist,<br />

das sich manifestieren kann. Wir haben unser Wesen in uns, das arbeitet in uns. Wenn<br />

1<br />

Brief vom 1. 11. 1894.<br />

2<br />

Vgl. GA 212,S. 212; GA 185a, S.98; Brief an F. Th. Vischer vom 20.6. 1882. Zur Steiner-Hegel-Beziehung<br />

s. a. Schneider 1985, S. 92ff. <strong>und</strong> Savoldelli 1980; zu Goethe, Hegel <strong>und</strong> Steiner Wulf 1985.<br />

3<br />

Vgl. GA 6, S. 206.<br />

4<br />

Der Individualismus in der Philosophie, in GA 30.<br />

5<br />

Vgl. GA 6, S. 208f.; GA 189, S. 153ff.; GA 212, S. 210.<br />

6<br />

Vgl. GA 104, S. 249 f.; GA 88, S. 109ff.

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