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Marxismus und Anthroposophie - Institut für soziale Gegenwartsfragen

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den zu wollen, bezeichnet er als „das Dümmste“ 32 - vielmehr wendet er sich an die Gutwilligen<br />

innerhalb <strong>und</strong> außerhalb der Parteien.<br />

Auch heute wird man beachten müssen, daß es im politischen Leben von üblen Karrieristen<br />

bis zu mutigen homines politici alle Schattierungen gibt. Daß die ersteren mit den<br />

letzteren durch Parteidisziplin vereinigt sind <strong>und</strong> dadurch immer wieder falsche Fronten<br />

entstehen, muß nur umso mehr dazu veranlassen, nach Formen gleichgerichteten Wirkens<br />

der Vernünftigen über solche Grenzen hinweg zu suchen. Es müssen alle sinnvollen<br />

Impulse, Initiativen usw. gelten: gerade darin besteht recht verstandener Pluralismus,<br />

nicht in der Konkurrenz der Interessen. Das „Bündnis aller friedliebenden Kräfte“ im östlichen,<br />

die „Gemeinsamkeit aller Demokraten“ im westlichen politischen Selbstverständnis<br />

sind Formeln, in denen diese Richtung bereits anklingt, wenn sie auch ideologischem<br />

Mißbrauch ausgesetzt sind.<br />

Steiner hat die Frage „Ist die Dreigliederung des <strong>soziale</strong>n Organismus Politik?“ verneint<br />

33 - in die Statuten der Anthroposophischen Gesellschaft ließ er den Satz aufnehmen,<br />

daß diese die Politik als außerhalb ihrer Aufgaben liegend ansehe. Doch muß man,<br />

um diese Formulierung zu verstehen - <strong>und</strong> von manchem braven Anthroposophen ist sie<br />

mißverstanden worden - parteipolitische Betätigung <strong>und</strong> gesamtgesellschaftliches Engagement<br />

unterscheiden: es kann keine Rede davon sein, daß die von Steiner gegründete<br />

Gesellschaft nicht <strong>für</strong> <strong>soziale</strong> Erneuerung wirken sollte, <strong>und</strong> noch absurder wäre die Folgerung<br />

aus dem Statut, der einzelne Anthroposoph habe sich von der Politik <strong>und</strong> den<br />

Parteien fernzuhalten. Politik im Sinne der Teilnahme am staatsbürgerlichen Leben, am<br />

Leben der „Polis“, ist nicht gemeint. Steiner ging es gerade um die Überwindung jener<br />

verhängnisvollen Situation, die K. Heyer damit umrissen hat, daß der Goetheanismus<br />

seinerzeit nur von einer kultivierten Oberschicht getragen war. So wurde der Geist „nicht<br />

,politisch‘, <strong>und</strong> das politische Leben blieb ideenlos, vom Geiste nicht befruchtet“. 34 Im<br />

Sinne einer solchen Befruchtung hat Steiner durchaus wirken wollen. Die dergestalt ideenvolle<br />

Politik muß allerdings vor allem auch die Tugend der Selbstbeschränkung lernen:<br />

Nicht alle gesellschaftlichen Fragen dürfen politisch entschieden werden! Und <strong>für</strong><br />

eine solche Selbstbeschränkung zu wirken, wäre eine Aufgabe sich geistig verantwortlich<br />

fühlender Politiker in allen Parteien. Es hängt durchaus von den gesellschaftlichen Verhältnissen<br />

ab, welche Fragen durch Politik <strong>und</strong> welche anders entschieden werden. Die<br />

Studenten- <strong>und</strong> Jugendbewegung der 60er Jahre hat leider mit der These, im Gr<strong>und</strong>e<br />

hätten alle Probleme ihre politische Relevanz, so sehr sie damit gegenüber dem mangelnden<br />

Problembewußtsein der „Unpolitischen“ im Recht war, die Chance vergeben, ein<br />

Bewußtsein da<strong>für</strong> zu schaffen, daß es Aufgabe der Sozialgestaltung ist, die Grenzen der<br />

politisehen Sphäre festzusetzen, nicht Aufgabe der Politik, die Gesamtgesellschaft nach<br />

ihren spezifischen Verfahrensformen zu reglementieren.<br />

Steiner scheint Optimist genug zu glauben, eine Minderheit, die ihre Privilegien verteidigt,<br />

werde eine Mehrheit, die die Neuordnung ernstlich will, letztlich auch durch Instrumentalisierung<br />

des Staatsapparats nicht aufhalten können, zumal dieser Instrumentalisierung<br />

ohnehin durch die parlamentarisch-demokratische Entwicklung gewisse Grenzen<br />

gesetzt sind. Er ist aber auch Realist genug, um zu wissen, wie schwer es ist, eine solche<br />

Mehrheit zu gewinnen. Revolutionen hält er nur dann <strong>für</strong> unvermeidlich, wenn die Probleme,<br />

die revolutionäre Situationen hervorrufen, nicht vorher auf dem Weg eines gesellschaftlichen<br />

Konsensus gelöst werden können, aber er strebt die Revolution nicht an. Er<br />

will Systemveränderung, aber hält Experimente im Sozialen <strong>für</strong> unmenschlich. 35 Er setzt<br />

trotz aller Widrigkeiten auf den Versuch, <strong>soziale</strong>s Gewissen <strong>und</strong> Empfinden anzusprechen,<br />

weil er weiß, daß da, wo der Überzeugung nichts mehr zugetraut wird, Sprachlosigkeit<br />

um sich greifen muß, die nur noch die Drohung mit Gewalt oder die Gewaltanwendung<br />

übrigläßt. Revolutionäre Situationen setzen nicht nur Gutes im Menschen frei,<br />

sie setzen auch die Hemmschwelle der Gewaltanwendung herab. Daß es Verhältnisse<br />

gibt, unter denen revolutionäre Gewalt weit eher gerechtfertigt ist als die reaktionäre Gewalt,<br />

gegen die sie sich richtet, ändert daran nichts.<br />

Steiner teilt nicht Marx‘ optimistischen Glauben, daß Revolution <strong>und</strong> „Vergesellschaftung<br />

der Produktionsmittel ausreichen würden, um den menschlichen Egoismus <strong>und</strong> jede<br />

Ausbeutung zu beseitigen“ 36 In solchen Erwartungen sieht er ein prinzipiell illusorisches<br />

Verständnis der <strong>soziale</strong>n <strong>und</strong> anti<strong>soziale</strong>n Triebe im Menschen am Werk: In Wahrheit<br />

32<br />

Über das Parteiwesen, nach Kugler 1978, S. 207.<br />

33<br />

GA 196, Vortr. 31.1.1920. Zum Statut GA 260.<br />

34<br />

Heyer 1983, S. 120.<br />

35<br />

Vgl. GA 322, S. 62.<br />

36<br />

Störig 1979, Bd. 2, S. 170.<br />

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