Marxismus und Anthroposophie - Institut für soziale Gegenwartsfragen
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en bürgerlichen Ideologie ab. Ein Drittes zwischen sozialistischer <strong>und</strong> bürgerlicher Ideologie<br />
kann es nach einem vielzitierten Lenin-Wort nicht geben. 16 Diese Auffassung führt in<br />
der Praxis oft zu einem relativ simpel-dualistischen Weltbild, bei dem alles geistige Ringen<br />
über den Leisten des ideologischen Klassenkampf-Schemas geschlagen wird. „Dritte<br />
Wege“ gelten dann als besonders raffiniert getarnte Varianten bürgerlicher Ideologie, als<br />
Mittel einer subtilen Diversion durch den Klassengegner; abweichende Interpretationen<br />
des <strong>Marxismus</strong> sind da leicht als ideologische Konterbande, die in den <strong>Marxismus</strong> eingeschmuggelt<br />
werden soll, abgetan. Wenn der Westen von Demokratie <strong>und</strong> Menschenrechten<br />
spricht, so ist dies dann nur eine raffinierte <strong>und</strong> verlogene antikommunistische Demagogie,<br />
die „Industriegesellschaftstheorie“ soll nur vom Kapitalismus-Problem ablenken,<br />
die Konvergenztheorie ist nur zur Aufweichung des Sozialismus erdacht, die Thesen der<br />
,Neuen Linken‘ nur dazu angetan, die ,antiimperialistische Front‘ zu spalten: solche Verkürzungen<br />
sind die Folge einer allzu simplen Sicht der geistigen Auseinandersetzung<br />
unserer Epoche. 17 Aber es sind auch tatsächliche Destabilisierungsversuche <strong>und</strong> negative<br />
Einflüsse des westlichen Lebensstils auf die Bürger der sozialistischen Länder, die die<br />
Kommunisten einen permanenten ,ideologischen Klassenkampf‘ <strong>für</strong> erforderlich halten<br />
lassen. Daß ihre Agitation <strong>und</strong> Propaganda auf die Massen nicht immer emotional motivierend<br />
wirkt, ist Anlaß immer neuer Appelle der Führungen zur Verstärkung dieses<br />
Kampfes. Doch die Menschen empfinden die Parolen vom Gemeinwohl <strong>und</strong> der Planung<br />
als dem Gegenbild zu privatkapitalistischem Profitprinzip, von Solidarität <strong>und</strong> Kollektivgeist<br />
als Gegenbild zu „Egoismus <strong>und</strong> Individualismus“ oft als inhaltlich zu unausgewiesen.<br />
Prekär ist vor allem die von der Propaganda immer noch vorgenommene Identifikation<br />
von Egoismus <strong>und</strong> Individualismus. Ist doch derselben Propaganda zufolge die „allseitige<br />
Persönlichkeitsentfaltung“ das erklärte Ziel des Sozialismus. Und was soll diese<br />
anderes zum Inhalt haben als die Bildung sozialistischer, also nicht egoistischer Persönlichkeiten,<br />
d.h. Individualitäten? Ausdrücklich spricht Marx von der sozialistischen Gesellschaft<br />
als einer „Assoziation“, d.h. Gemeinschaft, in der „die freie Entwicklung eines jeden<br />
die Bedingung <strong>für</strong> die freie Entwicklung aller ist.“ 18 Die Entfaltung der menschlichen Wesenkräfte<br />
als Selbstzweck, von der als Ziel des Kommunismus im dritten Band des „Kapital“<br />
gesprochen wird 19 ist vor dem Hintergr<strong>und</strong> dieser zentralen Aussage des „Manifests“<br />
nicht einfach im Sinne einer Entfaltung der Gattungsfähigkeiten der Menschheit zu verstehen,<br />
sondern als Persönlichkeitsentwicklung des einzelnen, dessen Interessen mit<br />
denen der Gesellschaft im Kommunismus zur Harmonie gebracht sein sollen. Daß die<br />
Gesellschaft ein organisches System sei, bedeute nicht, daß das Individuum einer Zelle<br />
zu vergleichen sei, ohne eigenständige Bedeutung sei.<br />
Trotz der Betonung der Rolle der Persönlichkeitsentfaltung durch die Marxisten-<br />
Leninisten entzündet sich die Kritik an ihrem System des realen Sozialismus immer wieder<br />
an der Bevorm<strong>und</strong>ung des einzelnen durch den kraft der Legitimation durch das Konzept<br />
der proletarischen Diktatur <strong>und</strong> des ,demokratischen Zentralismus‘ omnipotenten<br />
Staat mit seiner Staatspartei <strong>und</strong> den auf der gleichen Linie operierenden Massenorganisationen.<br />
Einerseits soll der Sozialismus - durch die Brechung des Bildungsprivilegs der<br />
Reichen <strong>und</strong> die Sicherung von Chancengleichheit <strong>für</strong> alle - da<strong>für</strong> sorgen, daß der<br />
Mensch seine individuellen Anlagen ausleben kann, während sein individuelles Schicksal<br />
in der antagonistischen Gesellschaft immer noch in hohem Maß von der Klassenzugehörigkeit<br />
bestimmt sei. Andererseits wird dem Individuum, da die Versöhnung zwischen ihm<br />
<strong>und</strong> der Gesellschaft prinzipiell erreicht sein soll, Kritik am gesellschaftlichen status quo<br />
des Sozialismus in toto nicht mehr verstattet. Weil kein Klassengegensatz mehr existiere<br />
<strong>und</strong> damit wahre Freiheit verwirklicht werde, sei auch die politisch-moralische Einheit des<br />
Volkes erreicht. Meinungsstreit sei zwar noch möglich <strong>und</strong> auch nötig: doch müßten sich<br />
die Meinungsverschiedenheiten auf ,einzelne Unklarheiten‘ <strong>und</strong> ungelöste Fragen <strong>und</strong><br />
Probleme des gesellschaftlichen Lebens beziehen, nicht jedoch auf die Gr<strong>und</strong>prinzipien<br />
<strong>und</strong> Gr<strong>und</strong>fragen der Ideologie. Durch die Einbeziehung aller Werktätigen in die Leitung<br />
des Staates <strong>und</strong> durch die Entwicklung der sozialistischen Demokratie gebe der Sozialismus<br />
jedem Bürger die Möglichkeit, seine Meinung zu allen Fragen des gesellschaftlichen<br />
Lebens zu äußern. Das klingt alles recht gut - doch wer entscheidet, was Gr<strong>und</strong>frage<br />
der Ideologie ist - <strong>und</strong> damit tabu - <strong>und</strong> was ,einzelne Unklarheit‘?<br />
16<br />
LW 5, S. 396.<br />
17<br />
Beispiele <strong>für</strong> derartige Polemik finden sich etwa in der Publikationsteihe ,Zur Kritik der bürgerlichen Ideologie“<br />
(hg. von M. Buhr).<br />
18<br />
MEW 4, S. 482.<br />
19<br />
Vgl. MEW 25, S. 828.<br />
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