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Marxismus und Anthroposophie - Institut für soziale Gegenwartsfragen

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Erkenntnis im Geiste ergreifen zu wollen, hält Steiner <strong>für</strong> eine Donquichotterie, denn dieser<br />

Gr<strong>und</strong> ist in der objektiven Realität nie aufzufinden. Die Gr<strong>und</strong>gesetze der Welt, „die<br />

sonst zwar alles Dasein beherrschen, aber nie selbst zum Dasein kommen würden, in<br />

den Bereich der erscheinenden Wirklichkeit zu versetzen“, ist Beruf des Menschen, dessen<br />

Erkenntnis, „bildlich gesprochen - ein stetiges Hineinleben in den Weltengr<strong>und</strong>“ 5 darstellt.<br />

Der Agnostizismus ignoriert diese Entwicklungsfähigkeit der menschlichen Erkenntniskräfte:<br />

was zuerst jenseits der Grenzen der Erkenntnis liegt, „das liegt nach der<br />

Erweckung von Fähigkeiten, die in jedem Menschen schlummern, durchaus innerhalb<br />

des Erkenntnisgebiets“. 6<br />

Man kann fragen, ob - <strong>und</strong> wenn ja, in welchem Sinn - auch in der <strong>Anthroposophie</strong> von<br />

einem Primat des Seins gegenüber dem Denken gesprochen werden kann. Das ist zunächst<br />

einmal insoweit der Fall, als auch Steiner davon ausgeht, daß sich das wahrheitsgemäße<br />

Denken nach den Tatsachen zu richten hat: Denken kann sich auch in leere<br />

Begriffsgespinste <strong>und</strong> Phantasmagorien verlieren, <strong>und</strong> deshalb gilt, daß nicht das Denken<br />

schlechthin, sondern nur das wirklichkeitsgemäße Denken das Sein erreichen kann. 7 Auf<br />

die Einsicht in den Primat eines Tatsächlichen, dem sich das Denken anmessen muß,<br />

läßt sich aber kein Beweis des Primats von Materie bauen, weil sie <strong>für</strong> geistige <strong>und</strong> seelische<br />

Tatsachen dieselbe Geltung haben muß wie <strong>für</strong> physische. Das zeigt schon eine<br />

simple Überlegung: Nicht nur das, was ich über die Physis einer anderen Person denke,<br />

muß der Wirklichkeit entsprechen, um wahr zu sein, sondern auch das, was ich über das<br />

Denken, Fühlen oder Wollen dieser Person denke, muß dem angemessen sein, was sie<br />

wirklich <strong>und</strong> tatsächlich denkt, fühlt <strong>und</strong> will. Resultiert doch eine Unzahl von zwischenmenschlichen<br />

Schwierigkeiten aus der Täuschung über fremde oder eigene Motive.<br />

An dem Glauben an die Wirksamkeit allein des Materiellen ist immerhin die Überlegung<br />

richtig, daß die Begriffe, in der Form, in der sie im menschlichen Bewußtsein zunächst<br />

auftreten, ohne eine über ihre kognitive Funktion hinausreichende Wirklichkeit<br />

sind. Die materialistische Metapher von ihrer Spiegelbildlichkeit hat hierin einen rationellen<br />

Kern auch <strong>für</strong> Steiner, denn der Begriff des H<strong>und</strong>es beißt so wenig wie ein Spiegelbild<br />

des Tieres es tut. Das Denken ist gerade dadurch die Voraussetzung menschlicher Freiheit.<br />

Denn wenn ich aus einem gedanklichen Motiv handle, so hat dieses keinen zwingenden<br />

Charakter: Ein Spiegelbild kann keine determinierende Kausa sein. 8 So ist die<br />

Möglichkeit des Denkens, sich von der Wirklichkeit zu lösen, die Kehrseite seines Charakters<br />

als einer freien Verrichtung, die denn ja auch, anders als Atmen <strong>und</strong> Verdauen,<br />

unterlassen werden kann. Die Objektivität des Denkens ist nicht ein <strong>für</strong> allemal gegeben,<br />

sondern setzt den Willen zur Wahrheit voraus, der sich der Wirklichkeit aus freien Stücken<br />

anmißt.<br />

Das heißt aber auch, daß Begriffe nicht einfach da sind, wie ein beliebiger anderer<br />

Bestandteil des Weltinhaltes, sondern durch das denkende Ich hervorgebracht werden<br />

müssen, um gegeben zu sein. Wird das Ich sich seiner hervorbringenden Tätigkeit bewußt,<br />

so geht ihm sein eigener Begriff auf. Während alle anderen Begriffe in der Sphäre<br />

der Spiegelungen gedacht werden <strong>und</strong> dadurch Begriff <strong>und</strong> Sache, Ding <strong>für</strong> mich <strong>und</strong><br />

Ding an sich, im Gegenüberstehen verharren, kann ich den Begriff des selbstbewußten<br />

Ich nicht denken, ohne das Gedachte zugleich hervorzubringen, denn das Selbstbewußtsein<br />

entsteht eben mit dem Ich-Gedanken. Mit dieser Überlegung ist eine Schwelle charakterisiert.<br />

Denn solange das Ich, wie z.B. in der Hegelschen Philosophie, auf die Produkte<br />

seiner geistigen Tätigkeit, die Gedanken, schaut, <strong>und</strong> nicht auf die Tätigkeit selbst,<br />

ist es noch nicht davor gefeit, sich selber wieder zu verlieren <strong>und</strong> aus einer anderen Wirklichkeit<br />

geistiger oder materieller Art gedanklich abzuleiten. Erst wenn solche inneren<br />

Gedankenerlebnisse gezeigt werden können, „die nicht wie ein Spiegel dessen erscheinen,<br />

was außer den Gedanken geschieht“ 9 , kann man der materialistischen Weltanschauung<br />

etwas Wirkliches entgegenstellen. Steiner will den Materialismus weniger widerlegen<br />

als überwinden, indem er ein Erlebnisgebiet <strong>und</strong> die Methode seiner Erschließung<br />

beschreibt, auf dem sich das Ich in seiner materiell unableitbaren geistigen Wirklichkeit<br />

erfahren <strong>und</strong> über diese hinaus ins geistige Sein vorstoßen kann. In diesem Sinne<br />

proklamiert er in dem Buch „Die Rätsel der Philosophie“ die Notwendigkeit einer Grenzüberschreitung,<br />

durch die das philosophische Denken über sich selbst hinauswachsen<br />

soll <strong>und</strong> die aus der Logik der Philosophiegeschichte selbst ableitbar ist. Diese hat es<br />

41<br />

5 GA 3, S. 173.<br />

6 GA 9, S. 17.<br />

7 Vgl. etwa GA 134, S. 15f.<br />

8 Vgl. bei Palmer 1976, S. 52.<br />

9 GA 18 II, S. 87.

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