Marxismus und Anthroposophie - Institut für soziale Gegenwartsfragen
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Raumkörper auftritt, daß er gerade zu diesem Zeitpunkt diesem bestimmten Subjekt erscheint;<br />
es handelt sich, mit den Worten A. N. Whiteheads, jeweils um einen bestimmten<br />
,Fall von Röte oder Bläue‘. 24 Die überzeitlich-überräumliche Natur dieses Wesentlichen<br />
bedeutet aber nicht, daß es schlechthin unfaßbar wäre. Vielmehr bleibt es ein durchaus<br />
Bestimmtes, Unverwechselbares, nicht mehr dinglich-materiell faßbar, aber dennoch<br />
objektiv-real, da nicht vom Bewußtsein erschaffen. Man kann von einer sinnlichübersinnlichen<br />
Wesenhaftigkeit sprechen.<br />
Die gängige Anschauungsweise will eine Ausgangswahrnehmung als subjektive Reaktion<br />
auf ganz anders geartete objektive Reize - nach dem Muster: Schallwelle-Ton -<br />
erklären. Steiner versucht immer wieder, diese Art Schnittführung zur Trennung von Objektivem<br />
<strong>und</strong> Subjektivem ad absurdum zu führen: Man will eine Ausgangswahrnehmung<br />
erklären, etwa warum ich hier <strong>und</strong> jetzt einen Orgelton höre. Ich finde bei der Untersuchung<br />
dieser Frage verschiedene raumzeitliche Vorgänge, in dem schwingenden Instrument,<br />
in der Luft, in meinem Sinnes-Nerven-System. Aber nirgends bekomme ich dadurch,<br />
<strong>und</strong> wenn ich die vollkommenste Einsicht in alle Details der Hirnfunktion hätte, den<br />
Punkt ins Beobachtungsfeld, wo aus den objektiven Vorgängen das subjektive Wahrnehmungserlebnis<br />
entstünde, dergestalt daß ich dessen Entstehen selbst wahrnehmen<br />
könnte. Ich muß mir schließlich das Eingeständnis abnötigen lassen, daß ich all diese<br />
,objektiven‘ Vorgänge, durch die ich mir das Wahrnehmungserlebnis erklären wollte, auch<br />
nur durch Wahrnehmungen kennenlernen kann, daß sie mir auch sinnlich gegeben sein<br />
müssen, wenn ich etwas von ihnen erfahren will.<br />
Mit der Untersuchung bin ich nur von einer Wahrnehmung zur anderen übergegangen,<br />
bis ich wieder bei der Ausgangswahrnehmung angekommen bin. Ich muß mir eingestehen,<br />
daß deren Inhalt gar nicht die Wirkung der raumzeitlichen Vorgänge, die zwischen<br />
ihm <strong>und</strong> dem perzipierenden Bewußtsein angetroffen werden, sein kann, sondern<br />
vielmehr als die Ursache dieser Vorgänge angesehen werden muß. Denn es ist dieser<br />
Inhalt, die Qualität, die sich in den verschiedenen Medien in immer neu verwandelter, der<br />
Beschaffenheit des jeweiligen Mediums angemessener Gestalt auslebt, um am Ende der<br />
Kette der Verwandlungen schließlich wieder ihre ursprüngliche Gestalt anzunehmen. In<br />
der Luft lebt der Ton als Schallwelle, im Nerv als Erregung usw., im menschlichen Bewußtsein<br />
als das, was er eigentlich ist: Ton, der als Sinn oder Gehalt in die anderen Vorgänge<br />
verwandelt <strong>und</strong> verschlüsselt war. 25<br />
Die Tatsache der Sinnestäuschungen ist demzufolge kein Beweis des Gegenteils: es<br />
kann sich um Störungen der Vermittlungsvorgänge in der physischen Organisation des<br />
Menschen handeln, um krankhafte Veränderungen, die die Reproduktion der Empfindungsinhalte<br />
im Bewußtsein ganz oder teilweise verhindern bzw. um Fehlverschlüsselungen,<br />
die sie entstellen. - Das erste ist der Fall beim Farbenblinden, das zweite beim<br />
Gelbsüchtigen, dem der Honig bitter schmeckt. (Ein weiterer Teil der sogenannten Sinnestäuschungen<br />
liegt überhaupt nicht auf dem Felde der Sinnesorgane, sondern auf dem<br />
der Fehlinterpretation ihrer Botschaften durch das Denken.) Die ganze eben skizzierte<br />
Argumentation gipfelt in der Einsicht, daß das „sinnenfällige Weltbild die Summe sich<br />
metamorphosierender Wahrnehmungsinhalte ohne eine zugr<strong>und</strong>eliegende Materie“ im<br />
Sinne der üblichen physikalischen Vorstellungen ist, die mit dem alten, unrichtigen Substanzbegriff<br />
der Metaphysik übereinstimmen: „Etwas anderes ist die Materie als das den<br />
Erscheinungen zugr<strong>und</strong>e liegende eigentliche Reale, etwas anderes die Materie als Phänomen,<br />
als Erscheinung. Auf den ersten Begriff allein geht unsere Betrachtung. Der letztere<br />
wird durch sie nicht berührt. Denn wenn ich das den Raum Erfüllende ,Materie‘ nenne,<br />
so ist das bloß ein Wort <strong>für</strong> ein Phänomen, dem keine höhere Realität als anderen<br />
Phänomenen zugeschrieben wird. Ich muß mir dabei nur diesen Charakter der Materie<br />
stets gegenwärtig halten. Die Welt dessen, was sich uns als Wahrnehmungen darstellt,<br />
d.h. Ausgedehntes, Bewegung, Ruhe, Kraft, Licht, Wärme, Farbe, Ton, Elektrizität usw.,<br />
das ist das Objekt aller Wissenschaft.“ 26 Erklären heißt, das Beobachtete auf den Begriff<br />
zu bringen, nicht jedoch es auf unbeobachtbare einfache Substanzen zu reduzieren. Mit<br />
solchen Reduktionen überschreite vielmehr die Wissenschaft ihre Befugnis. 27 Vorstellungen,<br />
die ihren eigentlichen Wert als „Abbreviatur“, als „Rechenmünze“ haben 28 werden<br />
dergestalt umstandslos mit erkenntnistheoretischer Naivität als Bezeichnungen oder Abbilder<br />
wirklicher Dinge, Stoffteilchen, Energiequanten o.a., genommen, die Frage nach<br />
45<br />
24 Nach Störig 2, S. 266.<br />
25 Vgl. etwa GA 1, S. 192f.<br />
26 GA 1, 197f.<br />
27 ibd., 199. Vgl. Rapp 1978.<br />
28 Vgl. GA 254, Vortr. v. 16. 10. 1915.